Sweet Ruin



Große Ereignisse brauchen ja meist eine bestimmte Zeit, ehe sie verarbeitet sind, sich ins Unbewußte eingenistet haben und als Erinnerungssplitter und Resonanzböden zur Verfügung stehen. Beim wöchentlichen Milchpackungs-Yenga in der Fabrikkantine rutschen mir mittlerweile Skulpturen wie diese Milchskyline heraus, die eine fast fotografische Ähnlichkeit zu der einer gewissen großen Stadt in den USA aufweist. Sogar in 3D. Da habe ich mich selbst ertappt!



Die Domino-Zuckerfabrik in Williamsburg hatte es mir ja besonders angetan. Bis 2004 galt sie als größte der Welt (Make Sugar great again!), seither stand sie so rum und verfiel zu einer Filmkulisse. Zu schade, daß sie nun "entwickelt" wird, man ahnt schon das Ergebnis. Da sich die Fassade der alten Fabrik nicht so leicht mit Milchtüten nachbilden läßt, habe ich mir nun ein Fotobuch gekauft.

Fotograf Paul Raphaelson hat das gemacht und für sein Kickstarter-Projekt dazu einen kleinen Film. Man sieht schöne Bildstrecken von den alten Innenräumen, Schaltern und Kontrollräumen, Silos und Förderanlagen - und alles, das ist das zuckergestärkte Sahnehäubchen, ganz ohne übertrieben kitschige HDR-Effekte. (Hier ein Artikel aus dem Brooklyn Daily Eagle.)

Manchmal wenn ich traurig bin, weil ich keinen candy-bar abbekommen habe, schaue ich mir die Bilder der Zuckerfabrik an, Heimat vielleicht eines schaurigen Willy Wonka, der mich mit grellbuntgefärbten Bonbons in den Wahnsinn treiben will.

(Paul Raphaelson: Brooklyn's Sweet Ruin. New York: Schiffer Publishing, 2014.)

Ex Libris | 22:02h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Donnerstag, 27. September 2018, 01:08
Großartig! Und wehmütig machend. Zum Glück steht die Domino Sugar Factory weit genug weg von meinem Sofa, sonst müsste ich da postwendend hin. Bei dem Bild von der Zuckerförderbrücke (in dem Zeitungsartikel) musste ich natürlich sofort an eine Kohleabraumförderbrücke denken.

Keine Ahnung, was man auf Dauer mit den alten Industriebetrieben machen könnte - also ohne sie zu so nem Retrokitschmist zu degradieren. Zehntausend Industriemuseen braucht ja auch kein Mensch.

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kid37 - Donnerstag, 27. September 2018, 01:48
Derzeit sieht es aus wie eine Kulisse für einen urbanen Vampirfilm, entfernt eine Mischung aus den Backsteinkulissen von Wismar und Lübeck in Nosferatu und den Ruinen aus Wolfen. Heimelige Patina auch. Am Ende aber soll eine Glaskuppel drauf und innen alles für IT-Firmen und Start-ups umgebaut werden, damit junge Menschen mit glänzenden Telefongeräten darin herumlungern können. Statt Wölfen oder Vampiren.

Hätte ich paarMarkfuffzig übrig, würde ich dort ein großzügiges Domizil ("Domino-Domizil") für mich bauen. Mit Fernsehraum, sieben verschiedenen Bibliotheken (nach Farben sortiert) und einem fluffigen Partykeller. Kleiner Vorratsraum und eine Dusche, dann ist wohl auch aller Raum verplant.

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fidibus - Donnerstag, 27. September 2018, 02:42
Mit so einem Keller sind Sie ja verpflichtet, ständig Partys auszurichten. Das wäre mir zu anstrengend.
Ich lunger einfach weiter in Wolfen herum (da gibt's -gottlob- auch kein Glaskuppelgedöns).

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kid37 - Donnerstag, 27. September 2018, 02:54
Haha, an die Orwo-Stadt habe ich gar nicht gedacht. Ich meinte den Klassiker aus New York. Da geht es ja auch um Immobilieninvestoren. (Doofer Trailer, schlecht geschnitten)

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fidibus - Donnerstag, 27. September 2018, 03:12
(Ich sag ja, Ihr Blog ist meine Uni. Höre zum ersten Mal von dem Film 'Wolfen'. Willy Wonka hatte sich bei mir auch noch nicht vorgestellt. :-))

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kid37 - Donnerstag, 27. September 2018, 13:39
Wolfen kennen heute bestimmt nur noch wenige. Der war schon in den 80ern "bloß" Kult, auch weil viele dachten, das sei so ein Werwolf-Horrorslasher. Dabei ist das eher ein gesellscahftkritischer Mysterythriller. Mit Wölfen halt. Ich habe den schon ewig nicht mehr gesehen, weiß gar nicht, ob der noch funktioniert. Ich fand den damals irre, dieses kaputte, ruinöse New York und die nicht ganz greifbare Bedrohung (durch Stadtentwickler einerseits und archaische Naturgewalt anderseits. Bestien überall.).

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fidibus - Freitag, 28. September 2018, 01:00
(Als streberhafte Blogstudentin hab ich den Film sofort ausgeliehen, und es ist der erste 'Horrorstreifen', den ich bis zum Ende schaute. Die ganze Szenerie ist beeindruckend. Werde jedenfalls nie mehr unbedarft in leerstehenden Häusern rumklettern.)

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kid37 - Freitag, 28. September 2018, 02:07
Die heutige Jugend! Alles immer sofort! Ich hingegen habe mir heute spontan die DVD bestellt, hänge also elend hinterher. Mal schauen, ob der Film mir nach gut 30 Jahren noch gefällt. Wiederbegegnungen nach so langer Zeit gehen ja nicht immer gut.

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