Der Nachtbus ist mir vor der Nase entwischt. Zu warten hatte ich keine Lust, darum ging ich zu Fuß. Ein Taxi nehme ich nie. Ich stamme aus einer armen Familie; Taxifahren galt als unerhörter und verschwenderischer Luxus.
Zweimal habe ich in Hamburg ein Taxi benutzt. Einmal kamen wir in einer kalten Dezembernacht von meiner eigenen Ausstellung. Sie war nur spärlich bekleidet, und außerdem war ich der Künstler an diesem Abend und benötigte eine große Geste. Noch ein anderes Mal nahm ich mir ein Taxi. Sie hat sich darüber lustig gemacht.
Zero, Zero, Zero.
Zu Fuß dauert es eine gute Stunde. Wenn man schnell geht, so wie ich. Der Weg durch die von spärlichen Lampen illuminierte Speicherstadt hat nachts seinen eigenen Reiz. Das Wasser der Kanäle ist tiefschwarz und übt eine besondere Faszination auf mich aus. Wie bei einem Wunschbrunnen voller Öl kann man den Grund nicht sehen. Ich würde jetzt gerne schwimmen gehen. Wirklich sehr gerne. Aber ich habe meine Betonschuhe nicht dabei. Nicht einmal ein paar Ziegelsteine, so wie in The Hours.
Zero, Zero, Zero.
Der Weg führt dann irgendwann durch endlose Gewerbegebiete. Um drei Uhr morgens, wenn die biologischen Funktionen auf ihren niedrigsten Stand absinken, plagen mich leichte Unterzuckerungen. Der Körper versagt. Aber auch ein angenehmes Gefühl, wie in Trance, mit schwammigen Knien und wackligen Beinen immer weiter zu gehen. Immer weiter, automatisch. Ich fühle mich wie der "unsichtbare Mann" aus Ralph Ellisons Roman. Ich gleite durch die Straßen, vereinzelte Autos rauschen wie ein Lichtstrahl an mir vorbei. Ich verschmelze mit dem Trottoir, den Wänden, den Unterführungen. Ich bin nicht da. Ich bin unsichtbar. Man kann in dieser Zeit über vieles nachdenken, sich an vieles erinnern. Dinge, die man niemals wissen wollte. In einer Hofeinfahrt sitzt ein weinendes Mädchen auf dem nackten Boden. Wochenendkrisen. Ich schleppe sie mit bis zum Bahnhof. Angeblich will sie noch irgendwohin.
Zero, Zero, Zero.
Die Briefe, die ich schrieb, waren so gut wie die Briefe, die ich nicht schrieb. Sie blieben alle unbeantwortet. Ich will Dir keine Hoffungen machen, meinte Sie auf einem der zahllosen Treffen, zu denen sie mich bat. Dann hielten wir weiter Händchen.
Ich hielt sie daraufhin für unnahbar, geheimnisvoll, zurückhaltend. Eine groteske Wahrnehmungsstörung. Erst später fand ich heraus, daß sie sehr wohl eifrig mit irgendwelchen Männern korrespondierte, die sie über das Internet und auf Parties kennenlernte, zu denen sie lieber alleine gehen wollte. Ihnen Fotos schickte.
Zero, Zero, Zero.
Silvester feierte sie lieber mit einem sogenannten Freund auf einer anderen Party. Die beiden warteten freundlicherweise bis viertel vor zwölf, ehe sie die Wohnung verließen. Dann war ich endlich allein.
Silvester. Zum Glück ein Tag, den man leicht vergißt. Als sie die Unordnung, die Flaschen und die zerstörten Sachen fand am nächsten Morgen dann, hatte sie nur eine Sorge. Ich hoffe, es trifft nicht meine Sachen, schrieb sie auf einen kleinen Zettel. Nein, schrieb ich zurück. Es trifft immer nur die anderen.
Sie wünschte mir kein frohes neues Jahr. Sie erzählte mir aber, mit unverhohlenem Stolz, daß sie ein "schönes" Silvester hatte. Sie sparte auch nicht mit den anderen Details.
Ihre Bekannten wurden ebenfalls brühwarm informiert. Die zeigten sich selbstverständlich schockiert. Über die Unordnung. Mich könne man ja nicht mehr einladen. Nachher randalierte ich auch in fremden Wohungen ab.
Zero, Zero, Zero.
Vielleicht war es das, was sie wollte. Sehen, wie andere zu Boden gehen. So wie die Männer, mit denen sie zusammengelebt hatte. Von denen sie verächtlich sprach und die in irgendeiner Form alle Gescheiterte waren. So wie ich nun. Und so zeigte ich mich ihr, entblößt, auf dem Boden. Und erzählte ihr von der Sache, dem eigenen Urschmerz, unter Tränen, am Boden. Etwas, was ich erlebt hatte, als ich ein kleines Kind war. Eine Sache, nur deshalb so groß und so weitreichend, weil sie im Grunde ganz furchtbar banal war. Eine Sache, von der ich vermutete, sie, die sich selbst ihr halbes Leben so abgelehnt fühlen mußte, könne es verstehen.
Wenige Wochen kamen wir auf das Thema zurück. Sie hatte es vergessen.
Na, meinte sie, erzähl es mir halt noch mal.
Zero, Zero, Zero.
Was sie vergessen hat, damit kann sie dir nun nicht wehtun. Und mir waren Taxis immer nur ein überteuerterTeil des Öffentlichen Nahverkehrs. Bewegung ist gesund, Laufen auch. Nur das stille Stehen vor dunklen Kanälen ist nicht so gesund, wenn auch magisch manchmal. Vielleicht geht irgendwann eine Sonne auf?
"Wenige Wochen kamen wir auf das Thema zurück. Sie hatte es vergessen.
Na, meinte sie, erzähl es mir halt noch mal. "
wären Sie eine meiner freundinnen, die mir die geschichte erzählt hätte, wäre "sie" dann also ein "er", ich hätte gesagt: ist er wenigstens gut im bett? ansonst: wech damit.
das sage ich Ihnen nicht, besonders auch deshalb, weil so klar ist, wie tief "sie" geht.
heute nacht auf der terrasse, gegen 2 uhr - die funkelnden gleichgültigen sterne über mir, ein dicker kater, der um meine beine strich, käuzchen-rufe - dachte ich an vieles, und auch an Sie. vielleicht, weil auch Sie in nächten umherstreifen (und dann fand ich vorhin Ihre nacht-geschichte hier), vielleicht, weil Sie nicht so eindeutig in eine meiner *so-sind se, die männer*- schubladen passen. vielleicht wegen der scharfen kanten an Ihnen, an denen ich mich gedanklich hin und wieder reibe. wegen der empfindsamkeit, die oft durchschimmert zwischen den zeilen, oder offen in den zeilen steht.
wie auch immer, das reiben an den scharfen kanten lässt manchmal funken sprühen, die gedanken in mir entzünden, die oft nicht dirket mit dem gerade gelesenen zu tun haben.
und das mag ich.
(unausgegoren, sagt mein zensor. beleibt trotzdem stehen)
Als nicht so guter, aber bußfertiger Katholik kann ich die letzten Jahre sogar als einen gewissen gerechten Ausgleich betrachten. Denn es gab einmal eine Zeit, da besaß ich sogar mehr männliche Gene als mir lieb war. Darüber war ich nie stolz, aber auch das muß erwähnt werden. Und nie habe ich so viel und so rasch gelernt, als in dem Moment, als mir die eigene, längst begraben geglaubte Fratze entgegenblickte.
Ja, ich gehe viel zu Fuß. Das entspricht meinem Lebenstempo, welches ein eher reduziertes ist. Und so lerne ich Dinge jetzt, die andere wohlmöglich schon vor Jahren begriffen haben. Immerhin lerne ich jetzt, was andere vielleicht niemals lernen. Es gilt, die Trümmer zusammenzufegen, die brauchbaren Stücke auszusortieren (nein, nicht bei eBay zu versteigern ;-)), Zerbrochenes zusammenzukleben und den Rest zu feiner Asche zu zermalmen und dem Kompost zuzuführen, auf daß irgendwann einmal schöne Blumen oder kräftiges Gemüse darauf wächst. Und ich allen Menschen alles Gute wünschen kann, bis auf die Falschparker natürlich.
Bis dahin sorgen die Wiederkehr gewisser Jahrestage oder auch der englische Regen dieses Sommers für gelegentliches Rutschen auf nasser Fahrbahn. Ein Rutschen mit wenig funkenschlagender Reibung. Die aber doch für blutige Male sorgt. Aber gemäß den Worten der werten Frau Lyssa sitze auch ich nicht in den dunkleren Ecken dieser Wohnung und sorge für Muster auf der Haut. Vielleicht auch deshalb, weil ich andere Formen der Selbstgeißelung kenne.
Sich in Weblogs zu entblößen ist nur eine davon.
"...and all the while he waits for sleep that never comes." (Linoleum, "Beds")
(Ich würd' Dich gerne verstehen
aber ich verstehe Dich nicht.)
(Aber ich möchte lieber - so weit es geht - nur über mich sprechen. Man fragt diese Fragen natürlich. Eine Psychologin fragte mich, warum sind Sie solange geblieben? Man muß sich ja auch selbst hinterfragen, warum man unbedingt in Teufels Küche will. Schmeckt es dort wirklich besser oder sieht die Speisekarte einfach verlockender aus? Aber vom richtigen Kochen habe ich eben keine Ahnung ;-) )
aber leben muß man vorwärts.
Ich denke manchmal, daß Individualität eine Illusion ist.
Wieso bist Du eigentlich um diese Uhrzeit nicht in der Gartenzwergfabrik?
Den Ihrigen Gedanken über Individualität teile ich übrigens. Ich sehe überall nur Muster, Schleifen und Schienen. Und wenn man die Öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, ist es am schlimmsten. Sitzt man erstmal drin in der Bahn, kommt man nicht so schnell wieder raus. Und in manche Gegenden fährt gar nichts. Auch deshalb ist es wichtig, ab und an ein Taxi zu nehmen.