House of the Blassen Sun
Mein kleiner Stadtteil verliert zusehends seinen proletarischen Polyestercharme. Immer häufiger treffe ich junge Menschen mit Umhängetaschen aus Lastkraftwagenplane an. Auch wurden erste Mac-Books in der Umgebung gesichtet, von einem Café ist die Rede, man möchte die funknetzwerkbefeuerten Assoziationen gar nicht zu Ende denken. Günstige Mieten treiben diese Menschen in die im Grunde weißkartographierte Welt östlich der Alster, ein Gebiet, das vom vergewöhnlichen Eimsbütteleppendorfer oder galaoszenigen Pauli-Ottenser meist als unerforscht oder bestenfalls unzureichend zivilisiert bezeichnet wird. Auch beherrschen augenscheinlich Bilder kriegszerbombter Trümmerwüsten die satinierten Fernurteilshirne, denen wohl das Dröhnen der Bomber-Harris-Geschwader an weißen ipod-Hörern vorbei noch in den Ohren klingt.
Ja, und die Russen erst! Da immerhin ist etwas dran, denn im Vielvölkergemisch meiner U-Bahn fallen morgens bereits sehr viele sehr junge, sehr schöne Djäwuschkas auf, ins Stadtzentrum unterwegs auf dem Weg zur Sekretärinnenschule oder Supermodelagentur. Ihre Brüder, vom kargen Haar oft und großem Durst, sind meist zu dreist oder viert unterwegs. Aber immer mit sich selbst beschäftigt, Uhrenkollektionen in Plastiktüten mit sich führend oder Schorf abpuhlend. Einmal sah ich einen Burschen gedankenverloren mit seinem Schlagring spielen. Dafür sieht man kaum noch Kampfhunde im Revier zwischen LKW-Strich und Hamburgs tollster Lesebühne.
Die nun zuströmenden Studenten und Medienprostituierten werden mir wohl bald die Aussicht versauen. Die freidichtende Radikal-Bohème vom Rauhen Haus wird die Plakatwände besetzt finden von Edgar-Karten, Demo-Aufrufen und Ausstellungshinweisen. Bei mir im Haus hat nun eine Studentinnen-WG Einzug gehalten. Beim wöchentlichen Versuch, dort eine Tasse Zucker zu leihen, traf ich dort langhaarige junge Damen vor, zum Glück herrenbesuchslos, freundlich, das Leben noch vor sich. Während ich ihnen ein frisch ausgedrucktes Exemplar der Hausordnung überreichte (Keine Jogginghosen im Treppenhaus! Nur amtliche Musik!) und sie was von "schöner Aussicht" murmelten, ermahnte ich sie eindringlich, aber nicht weitersagen!. Sonst heißt es bald UNESCO-Weltkulturerbe, und als nächstes philosophiert Dittsche dann aus der pittoresken Tristesse vom Biller Grill ("Marion's Imbiss - Frühstück schon ab 5.30 Uhr!!!").
Die Welt ist im Wandel also. Eine neue Hölle von Qualen der Angst! (Strindberg). Sie werden hier Galerien einschleppen wie eine unheimliche Virusinfektion. Straßencafés und Bio-Bäckereien werden sich wie Spaltkeile zwischen Autohäuser und Gewerbebrachen zwängen und womöglich eine Krankheit namens Flair einschleppen. Blasser wird die Sonne hinterm Rauhen Haus versinken.
Invasion der Generation Umhängetasche. Sie armer Kerl. Besorgen Sie schon den bratwurstparfümierten Atemschutz - Yogiteeschwaden sind nicht zu unterschätzende Fallen im täglichen Bobo-Spießrutenlauf.
Ich singe mit Otto Europa: "Knietief im Zitronengras".
Das ist aber lustig. Danke!
Kennen Sie das? Ich mag das sehr, man kann es
hier hören, bei FM4.
Ich kannte es zuvor noch nicht, war aber immer der Meinung, soetwas sollte mal einer schreiben. Danke also, dass Sie mir diesen Post-It-Platz im Hirn jetzt freigeräumt haben. :o)
Ha! Da werde ich hellhörig. "Generation" U.? Erklären Sie mal! Wurde mir doch kürzlich ein solches Utensil
empfohlen. Was hat das denn nun für Implikationen? (Und was ist "Bobo"?)
Grüße von hinterm Mond.
Die geile Tita nahm selbiges unlängst im Zuge einer Anmoderation in diesem unanständigen Magazin in den Mund und irgendetwas klickte in meinem Hirn auf Interesse anstatt auf "Weiterklicken!". Es handelt sich hierbei um einen
Ratgeber in Buchform.
"Bobo" überlasse ich wem anders. Meine Erklärgeduld ist diesbezüglich völlig AWOL.
Altmann an Zitronengras.
Bobo hat jedenfalls nichts mit, Achtung Brüller,
white wooden houses zu tun. Und jetzt höre ich vor dem Einschlafen noch Otto Europa.
Ich hatte mich bereits hoffnungslos im Informationsdschungel verirrt ("Die Bobo sind eine Ethnie in Burkina Faso und Mali. Sie werden auch Bobo-Fing genannt und sind nicht zu verwechseln mit den Bwaba (Bobo-Oule) ... Bobo In White Wooden Houses ist die Band um die Sängerin Christiane ('Bobolina') Hebold ... DJ BoBo (* 5. Januar 1968 als René Baumann in Kölliken AG) ist ein Schweizer Popmusiker, Sänger, Tänzer, Komponist und Musikproduzent ... Deivson Rogerio Da Silva (genannt 'Bobo', * 1. Januar 1985 in Gravata, Brasilien) ist ein brasilianischer Fußballspieler ... Der Begriff Bobo steht für den Namen des Teddybären von Mr. Burns in der US-amerikanischen Zeichentrick-Serie Die Simpsons") und musste immer an
ihn hier denken ...
Das ist hier ja fast das hermetische Symposium. Was Sie alles ausgegraben haben... Respekt.
Tja, der Stern des Schranzenviertels ist im Sinken, von daher war es nur eine Frage der Zeit, bis Ihr Arrondissement am Canal Du Midi zum neuen In-Viertel avanciert. Ich hatte es ja kommen sehen, aber es geht viel schneller als ich dachte.
Dieses Jahr schwillt es merklich an, diese jungen Leute haben keine Hemmungen mehr - den Kaffe bringen die einfach "to go" aus der Schanze mit. Wenn der erste "kik" einem T-Shirt-Laden weichen muß, ist der Damm in Hamm gebrochen.
Schippe Pommes, Wurst und Café?
The Return of the Mettbrötchen. Wir nennen es Fernfahrer-Bistro.
Ja, die Bohemme, die hat keinen Anstand und nimmt einem das Letzte ...
Sollte es zu schlimm werden, rufen Sie mich an, Herr @kid. Dann komme ich mit meinem Trenningsanzug vorbei und flaniere polyesterreibend für ein Stündchen in ihrer Wohngegend ... um der alten Zeiten willen.
Ich erwäge die Gründung eines Kulturvereins, der die Traditionen des Viertels bewahrt. Zu festlichen Gelgenheiten im Jahr könnten dann Trachtengruppen in beige-farbenen Ballonseideblousons und Bequemschuhwerk von Lidl Umzüge veranstalten.
Wenn Adiletten erlaubt sind, bin ich dabei !
Natürlich, wir tanzen den weltberühmten Adiletten-Plattler!
Werter Herr Kid, eigentlich hatte ich die Idee gehabt, das äusserst
spontane Bloggertreffen an diesem Samstagabend in eine ruhige Kneipe einer ebenso ruhigen Wohngegend zu legen und dachte an ihren schönen Stadtteil. Dann hätten sie es auch nicht so weit und die Chancen, dass wir uns abermals, aufgrund
widriger Umstände verpassen, wären extrem minimiert.
Ihr Bericht hat mich nun aber aufgerüttelt und mich eines Besseren belehrt.
Orte wie diese dürfen nicht auch noch durch Bloggertourismus zerstört werden.
Also fühlen sie sich herzlich eingeladen, ins schöne Schanzenviertel ;o)
Sensibel gedacht, sehr lobenswert! Und vielen Dank! Ich bin allerdings zu einer kleinen Forschungsaktivität selbstverpflichtet und komme wohl leider erst spät aus dem Labor.
ich fahr da immer durch, wenn ich meine eltern in bergedorf besuche.
das rauhe haus liegt von ihnen aus nordöstlich. somit ist also eher ein blasser sonnenaufgang zu befürchten.
Jajaja. Pffft. Eigentlich gibt es hier noch nicht einmal Sonne, so trübe sieht es aus. Es ist ein rechtes Bläßchen halt.
Dem entnehme ich, daß man im Chancenviertel auf der Suche ist nach einer Schanze für noch nicht so richtig besserverdienende Böhmen. Wirft das neue Speicher-Hamburg bereits Schatten?
speicher-hamburg zieht eher neurentner aus dem umland.
Ich bin Neurentner aus dem Umland! Aber dahin zieht es mich trotzdem nicht.
Vor einer Stunde leuchtete mir ein Zweizimmersignal aus Barmbek auf. Darüber denke ich nach. Oder? Was meint die Expertenrunde?
meine oma sagte immer zu ihrem nymphensittich: "in barmbek wohn du? und darum wein du? muddu nich!"
Da gibt es immerhin einen schönen Flohmarkt.
Herrje, das sind ja Schreckensszenarien. Mein Beileid und einen Gruß an die Studentinnen-WG!
Ja. Aber ich versuche, ausnahmsweise wenigstens diese Unbill ohne Greinen und tapfer wie ein Mann zu ertragen. Das ist ja unter anderem meine Lernvorgabe 2008. Ich hoffe, die Studentinnen, alles stud. psych. und soz.päd.cand., machen auch Einzelfallbetreuung.
Man trifft dort die interessantesten Gestalten. Auch der Blick in den Altpapiercontainer gleich nebenan lohnt immer wieder aufs neue. Wertlose Zertifikate Klatschmagazine, Warenhauskataloge, Stoff für kulturreduzierte Wochenenden.
Auch ich muss zusehends mit ansehen wie mein schönes Arbeiterviertel in Wien - Favoriten von Stadtgemeinde verwandelt wird. Beginnend mit einem Shoppingcenter und davor einem weiten Platz inklusive Springbrunnen und Sonntagssonnencafé mit Öffnungszeiten bis spät in die Nacht werden die Bobos nicht mehr lange auf sich warten lassen, vor Allem nach dem Umbau und Neugestaltung des autenthisch hässlichem Bahnhofs befürchte ich den Sturm und Drang. Kulturvereine sind in Favoriten vornehmlich türkisch, gliederten sich doch türkische Kebabbuden in seelischem Einklang neben Würstelbuden ohne sich gegenseitig zu verdrängen. Rat ist am Manne. Was tun gegen alternative Läden und Fairtrade-Weltläden?
Früher genügte es ja, mißtrauisch zu gucken, aber ich fürchte, das schert die nicht mehr. Vielleicht nutzen Mahnwachen, die raschelnde Plastiksackerl vom Hofer tragen.