Gnadenlos

Sie blickte durch ihr Guckloch auf das graue Laub der grauen Bäume hinaus und dachte an Soledad Ordóñez, die unscheinbare, bucklige alte Frau aus dem barrio San Miguel, die zweiundzwanzig Jahre lang nicht mit ihrem Mann redete, weil er auf dem Markt von San Andrés ihr Schwein verkauft und sich von dem Erlös eine Woche lang betrunken hatte. Als er auf dem Sterbebett lag, umringt vom Priester, ihren drei Söhnen und vier Töchtern, allen siebzehn Enkelkindern und seinem Bruder, krächzte er mit viel Mühe die Worte heraus: "Soledad, sprich mit mir!" Ihr Gesicht war steinern, der Priester und der Bruder und alle Kinder und Enkel hielten den Atem an, und dann sagt sie ein einziges Wort: "Suffkopf", und er starb.

(T. C. Boyle, América, 1995.)

Ein schönes, deprimierendes Buch, das nicht ohne Hoffnung ist. Es zeigt, wie alle zaghaft keimende Hoffnung durch irrwitzige, unwahrscheinliche aber immer glaubhafte und dann fast doch vorhersehbare Weise immer wieder aufs Neue zerstört wird. Mit anderen Worten: Ein äußerst lebensnahes Buch, das unter anderem zeigt, wie ein liberaler Mittelklasse-US-Amerikaner zum wütenden Rassisten oder rassistischem Wüterich wird.

Warum? Weil der Mexikaner Cándido (sprechender Name) heimlich mit seiner schwangeren Braut América (sprechender Name) die Grenze zu den USA überwindet, um als Illegaler Arbeit und die Aussicht auf ein kleines bißchen Wohlstand zu finden. Und wie die beiden, wie weiland ein Paar namens Joseph und Maria, als Aussätzige und Unerwünschte in einem fremden Land leben müssen. Und wie alles immer nur schief läuft, fast 400 Seiten lang.
Bis am Ende buchstäblich alles verschlungen ist.

Ex Libris | 01:25h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
axelk - Freitag, 4. Juni 2004, 01:44
Wenn ich mit 'wassermusik' fertig bin ..

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michael blasius - Freitag, 4. Juni 2004, 03:09
Ich habe von Boyle nur "Grün ist die Hoffnung" gelesen, und dieser Roman gefiel mir so wenig, dass ich es bislang mit keinem weiteren von ihm versucht habe. Ich kenne aber Leute, die schwören auf T.C. Boyle und legen mir immer mal wieder "Der Samurai von Savannah" ans Herz.

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kid37 - Freitag, 4. Juni 2004, 03:18
Mir war lange Jahre der Hype schlicht zu groß.
JEDER fand den gut. Das langweilt mich dann. Nun aber, für 50 Cent in der Bücherstube, konnte ich schlicht nicht widerstehen.

"América" hat eigentlich alles, was ich an literarischen Themen und Schauplätzen nicht so mag (z.B. Mexiko, vordergründige gesellschaftspolitische/soziale Themen), hat mich dann aber über 400 Seiten sehr in den Bann geschlagen. Erzählen kann er schon.

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Lu - Freitag, 4. Juni 2004, 12:42
ich hab mich auch das ganze buch hindurch irgendwie schlecht gefühl. man wird so hineingerissen in das leben der beiden, ich hatte quasi das gefühl, ich steige selber abends diesen hügel hinunter, durch die büsche hindurch, ins irgendwo mit hunger bis zu den knien.
ist zwar schon was her, aber das gefühl kommt auf knopfdruck, also hat boyle gut erzählt. für mich gesprochen, 'türlich.

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axelk - Freitag, 4. Juni 2004, 12:43
Ich bin schlicht begeistert von 'wassermusik' .. da ist keine seite langweilig.

ot.: wie siehts heute abend mit rock & wrestling aus ?

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kid37 - Freitag, 4. Juni 2004, 14:43
Rockin' & Wrestlin'
Ich sitze hier schon ganz aufgeregt in meinem hautengen "Diablo de Tijuana"-Trikot...

Ich weiß nur noch nicht, ob ich den Leopardenstring unter oder über der Montur trage.

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