Verweht. Alles.
On the edge of a dream that you have
Has anybody ever told you
It's not coming true?
(The Kills, "Black Balloon")
Rasch fällt mir auf, warum ich lieber den Abendzug nehme. Der IC ist vollgepackt mit jungen Familien, quengelnden Kindern und Menschen mit obszönen Mengen an Gepäck. In der Reihe vor mir sitzt eine schöne junge Japanerin. Neben mir sitzt das nervigste Kleinkind des ganzen Waggons.
Während ringsum bildhübsche, wohlerzogene Kinder in ihren Pixibüchern blättern oder interessiert im Gang auf- und abtollen, zeigt Little Miss, wo sie in zwanzig Jahren sein wird: Eine egozentrische kleine Prinzessin, die ihre Sachen achtlos zu Boden werfen und augenblicklich ein Geschrei beginnen wird, reicht ihr nicht jemand augenblicklich alles zurück. Innerhalb einer halben Stunde ist der halbe Großraumwagen von ihrem Getue entnervt. Sie fordert alle Aufmerksamkeit für sich, die jungen Eltern kommen dem gerne nach. "Papa", schreit sie und langt nach dem jungen Mann, der neben der schönen Japanerin sitzt. Die blättert gelangweilt in der Bedienungsanleitung ihrer kleinen Digitalkamera. Der junge Mann vermißt sein altes Leben und schaut auf dem Notebook beim Nachbarn schräg vor ihm eine bekannte deutsche Kifferkomödie. Sofort aber kümmert er sich um Little Princess, die weint, strampelt und zudem, man muss es leider sagen, recht häßlich ist. Wie von mir im Stillen vorausgesagt, schreit sie sofort "Mama", kaum daß der Papa sie auf dem Schoß hat. Mama schnappt sie sich zurück, mit empörtem Seitenblick auf den nunmehr düpierten Papa, der sich wieder der Kifferkomödie zuwendet. Die schöne Japanerin blättert ungerührt in der Bedienungsanleitung.
Ein paar Reihen vor mir sitzt ein Mädchen mit rotschwarz gestreifter Ringelmütze und dazu passendem Sweater. Sie fällt mir auf, weil sie sich mit lässiger Kraft an der Gepäckablage entlanghangelt, um etwas aus ihrer Reisetasche zu holen. Dabei rutscht das Ringelhemd hoch, und sie präsentiert unbekümmert ihren Bauchnabel, den ich, wie ich gerne bekunde, sehr apart finde. Über Bauchnabel könnte man auch einmal ein schönes Buch schreiben. Die kleine Kreischkönigin spielt nun mit ihrem Stofftier und einem Taschentuch Schlafengehen und Zudecken. Weil die Taschentuchbettdecke über dem Schmusegefährten Falten wirft, schlägt sie mit flacher Hand und voller Kraft darauf ein. Nach einem kurzen Blick erkläre ich den Teddybär für tot. Ich träume mich aus dem Fenster hinaus. Bald, denke ich, wird die Zeit des ersten Mals kommen. Bald wird es das erste Mal sein, daß ein Luftballon aus der Hand gleitet, vom Wind vertrieben und vom Wetter umhergeworfen wird, und keiner, der ihn zurückbringt. Nicht um alles Geschrei dieser Welt. Festhalten, wird es dann heißen. Nicht Klagen.
Die schöne Japanerin hat begonnen, sich selbst zu fotografieren. Im Player stöhnt Chris Isaak "Baby did a bad, bad thing". Ich versuche zu schlafen, in meinen Traum zurückzusinken und das Wetter zu beobachten. Lebwohl, mein schwarzer Ballon.
Alle werden lernen. Die Japanerin, die Bedienung ihrer Digicam, das Ringelshirt-Mädchen, dass zu kurz manchmal zu kalt sein kann und die Kreischkönigin... ach nee, die vielleicht nicht.
Und was ich alles dabei gelernt habe!
Wieder mal ein eindringliches Plädoyer für
geschützten GV und die aktive Teilnahme am motorisierten Individualverkehr. ;-)
Ach was. Es reicht bestimmt, frühzeitig zu vermitteln, daß sich die Welt sich nicht nur um einen selbst dreht. Interessant war, daß die anderen Kinder recht interessiert an der Kleinen waren. Wie Publikum, das eine Show ansieht. Im Individualverkehr kann man nie soviel übers Leben lernen ;-)
jede Lernkurve hat ihre spezifischen Nullstellen und Scheitelpunkte. Der Lütten immer wieder mal zu verklaren, dass sie nicht der Mittelpunkt des galaktischen Zentrums ist, das lerne ich ja gerade in der Praxis, dafür braucht es keine Platzkartenreservierung im Großraumwagen.
Aber Ihre Beobachtung, wie andere Kids so eine Show auf sich wirken lassen, kann ich aus eigener Anschauung bestätigen. Ich kann Sie gerne mal mitnehmen in den Indoor-Spielplatz, da gibt es für wenig Eintrittsgeld Lehrstoff über das Leben, da schlackern Ihnen Augen und Ohren. ;-)
Ja, das war das Schöne, damals in meiner Zeit mit Beutekind. War ja leider nicht so lang.
Schön geschrieben, mein lieber Herr Kid, ich saß beim Lesen direkt mit im Zug. Ich fürchte, dass das Ringelhemdmädel seine Unbekümmertheitnoch verlieren wird und dass aus Mädels wie der Kreischtante Frauen werden, mit denen man lieber nix zu tun haben will...
Man wird es nie erfahren. Wie ein Film, dessen Ende man nicht sieht. Wie eine Beziehung, die nicht zu Ende gelebt wurde. Wir steigen in andere Züge und erleben weitere Momente.
des lerneffektes wegen habe ich zugfahren schätzen gelernt.
manchmal träume ich mich auch weg, manchmal aber spreche ich die mitreisenden.
dadurch habe ich dreimal hintereinander ehemalige internatsbewohner aus sehr fernen zeiten wiederentdeckt.
jetzt bin ich etwas aufgeregt, steige ich in einen ice...
reisezeit ist nie verlorene, das haben sie wunderbar beschrieben.
Die Reisezeit nicht, das Warten auf den Anschluß manchmal. Ich reise gern, auch etwas, was ich letztes Jahr versäumt habe.
Hätte nicht gedacht, dass mir das Bahnreisen einmal wieder fehlen könnte.
Ich sitze immer auf dem falschen Platz. Weder neben der Japanerin, noch neben der im Ringelshirt.
Andererseits sollte ich mir vielleicht nicht zielsicher das traurigste
Lied vom neuen Kills-Album auf den Player packen. (Doofes Video; kauft alle das Album.)
Die traurigsten sind stets die schönesten Lieder. The Kills sind großartig.
Sind sie. Ganz wunderbar.
Ich möchte hiermit kundtun, dass ich neidisch bin - hab´s ja nicht geschafft, hinzugehen.
Schreiben Sie doch bitte einen kleinen Bericht, dann fühle ich mich wenigstens so, als wäre ich doch hingegangen.
Mich interessiert eigentlich nur die "schoene Japanerin" - dass sie sich selbst fotografiert hat. Das kommt mir bekannt vor. Aber wie hat sie denn ausgesehen, was hat sie getragen etc. Schoenen Tag wuenscht Audri
Sie sah wundervoll aus. Ein Versprechen. Ganz bei sich nämlich, wie sie sich so fotografierte, ganz unbefangen. Ich hätte das natürlich auch gern übernommen.
hat sie sich von oben fotografiert? so hochschauend in die kamera mit ausgestrecktem arm? ich habe auf meinem schreibtisch einen ordner "frauen von oben", in dem ich zufallsfunde aus dem internet aufbewahre. ein bildband ist in planung.
So eines war auch dabei, wie es halt so geht in einem engen Sitz im Zug. Hätte ich von Ihrem Projekt gewußt, ich hätte sie gleich angesprochen.
And then my husband--God be with his soul!
A' was a merry man--took up the child:
'Yea,' quoth he, 'dost thou fall upon thy face?
Thou wilt fall backward when thou hast more wit;
Wilt thou not, Jule?' and, by my holidame,
The pretty wretch left crying and said 'Ay.'
Sie haben mich gerade zum (leider schon googlebaren) Term "Bimbo Limbo" inspiriert. (Wie in:
Being in a ~)
Ah, mehr deftiger Shakespeare, weniger ödes Thesentheater. "
Bimbo in a Limbo", zu singen auf die Melodie von "Girlfriend In A Coma".
jaja, die transportablen Einbauschränke. In der Bahn werden die wenigstens nicht dem Personal auf's Auge gedrückt.
Riesige Hasen. Und Eier. Und Tüten und Taschen. Ostern ist das Fest der (Gepäck-)Fülle.
Was für ein Plädoyer fürs Zugfahren!
Ich mag solche Beobachtungen sehr, auch selber anstellen.
Beim Aufschreiben, so im Zug, habe ich immer das Problem, daß ich meine Schrift hinterher kaum lesen kann, weil die durch das Wackeln des Zuges immer so krakelig gerät.
Bezeichnend übrigens auch, daß Ihnen (fast) nur weibliche Fahrgäste auffallen...
Ja, die Notizen geraten ähnlich wie der Blick und das Gemüt oft ins Schwanken. Ich bin lesbisch Ich mag Frauen sehr, vielleicht fallen sie mir deshalb auf.
letgztes Jahr musste ich dienstlich mal so erste Klasse fahren. Ich sag Ihnen das ist so dämlich. Alle in Uniform und Blackberry und voll die Langeweiler. Einer hörte hier ipod musik stand "Huey Lewis" drauf. Dachte ich "klar, was sonst"
Iiiiiiiiieeeeh. Gut, daß ich heute keinen Kuchen gegessen habe ;-)
jeder (volle) waggoninhalt repräsentiert den querschnitt der gesellschaft... und vermutlich auch den querschnitt jedes einzelnen... so laßt gnade walten gegenüber den prinzessinen unseres landes - jeder wäre gern mal eine. ;-)
und: wenn die kleine königin am ende doch noch zu einem spiel gefunden hat, war das doch gut! ich habe in urlaubszügen auch schon kinder erlebt, die durchquengelten... reisen = stillsitzen = leisesein ist eben nicht wirklich kindgerecht.
Ich möchte Prinz sein im Lande der Prinzessinnen!. Leider war sie nicht ruhig, nachdem sie ihr Stofftier erschlagen hatte. Die Eltern machten immerhin einen recht sympathischen Eindruck, vielleicht waren sie etwas überengagiert. Hätte ich eigene Kinder, wären die natürlich alle saubergescheitelte Chorknaben und Friedensengel. (Da war z.B. ein anderes Mädchen, sieben oder acht, sehr höflich, aufmerksam und bildhübsch. In ein paar Jahren werden alle Jungs in ihrer Klasse unsterblich in sie verknallt sein. Aber sie wird das nicht ausnutzen, sondern den stillen, komplizierten Melancholiker mit dem Ringelshirt heiraten.)
Da war z.B. ein anderes Mädchen, sieben oder acht, sehr höflich, aufmerksam und bildhübsch. In ein paar Jahren werden alle Jungs in ihrer Klasse unsterblich in sie verknallt sein.In ein paar Jahren wird sie Punkerin sein und beweisen, daß nur die guten Mädchen in den Himmel kommen, die Bösen aber überall hin... Und der stille, komplizierte Melancholiker mit dem Ringelshirt wird sich wünschen, mit ihr mitreisen zu dürfen... (ätsch! ;-)
[...] Ach was. Muß man tapfer sein.
Angekoppelte Waggons, die IKEA-Kinderparadiese enthalten, erleichterten vielleicht die Fahrten für so manchen sensiblen Kunden der deutschen Bahn.
Dies klärte allerdings nicht die Frage, ob die junge Muter vielleicht nicht doch auf der Suche nach einer Bedienungsanleitung für ihren Sprössling war... ;-)
Ich hoffe das Buch über Bauchnabel schreiben Sie vor Charlotte Roche ;-)
Man darf nicht in jeden Bauchnabel fassen, soviel weiß ich schon. Das wird Kapitel eins. Wäre auch ein schönes Fotoprojekt für 2008, ich wollte mir ja dieses und jenes vornehmen.
Weil die Taschentuchbettdecke über dem Schmusegefährten Falten wirft
Ich hätte gern einen Schnaps.
Ihre Fantasie geht übers Bordbistro. (Und ich meine, sie schlug mit voller Kraft! Das tut doch weh.)
große themenwochen bahnreisen auf blogger.de???
allerdings gibt es so grenzerfahrungen, die verarbeitet werden wollen; die hätten einem aber auch sonstwo passieren können...
leben ist leiden. (im auto aber auch!)
Zu verarbeiten gibt es hier noch genug, in Zügen und in vollen auch. Wird aber alles besser, ich lasse mich nicht mehr abkoppeln.
kommt drauf an, welche art von verarbeitung geplant ist - dieses internet, scheint mir, ist besser für verarbeitungsschritte wie "durch-den-wolf-drehen" geeignet als für therapeutische reflexion.
chacun à son gout, manchmal ist das eine auch das andere.
volldampf voraus.
Ich glaube nicht, daß jemand "Therapie" vom oder im Internet erwartet. Es wäre schade, wäre dies die einzige Werkstätte, die jemand zur Verarbeitung wählt. Das ist doch eher wie Hemingways "Iceberg"-Theorie. Den größten Teil wird man gar nicht gewahr. Es ist mehr ein Kneipengespräch: Man plaudert, man küßt sich, manchmal haut man sich auch. Es wäre bei allem nur schade, böte man nicht selbst viel, viel Angriffsfläche. Nein, besser: offene Seiten.
Heute bin ich mir auch nicht sicher, ob ich Ihren Satz "Leben ist leiden" unterschreiben könnte. Ich hatte gestern einen schönen geselligen Abend. Andererseits muß ich gleich noch schnell das Bad putzen...
ich fürchte manchmal schon... was der eine oder die andere alles so preisgibt, da reicht es bei mir von verwundertem interesse bis zum fremdschämen. klar, das muss man nicht lesen, aber als phänomen ist es doch interessant zu beobachten...
einerseits bin ich ausgeschlafen und werde das bad erst nächste woche putzen, andererseits fahre ich gleich mal wieder zweieinhalb stunden nicht-ganz-so-nahverkehr. vielleicht eine große zeitung mitnehmen. nur prophylaktisch. ich werde berichten.
das leben-ist-leiden-moment war auch nur ein ebensolcher. und ausserdem ein taktiler erguss der spruchklopferei. warten sie, ich mach gleich noch welche (für die 2 oberen absätze):
leben ist lesen,
lesen ist leben,
lesen ist lernen
leben ist lernen
...
labern ist leben
;-)
schönen tag noch, bin jetzt am zug
hihi. fremdschämen - auch ein schönes wort. dafür spende ich einen bauchnabel... ;-)
Es gibt immer Phasen, denke ich. Ist dann mal ein paar Wochen schmerzhafter zu lesen als in anderen. Aber solange Entwicklungen da sind, zählt für mich das Negative genauso wie die schönen Dinge. Es kann nicht nur Sieger geben ;-)
...richtig, und manchmal verliert man eben auch!
mein äusserungen bezogen sich nicht speziell auf das hermetische café! nur falls das jemand fälschlicherweise glauben sollte...
Ich fühle mich immer gleich ermahnt ;-) Oft ja auch zurecht.
Die schöne Japanerin hat begonnen, ihren Bauchnabel zu fotografieren. Im Player seziert N. Luhmann..."die unwahrscheinliche Leistung der Herstellung von Intimität" und das Phänomen "unendlicher Sehnsucht - dumpfes Begleitgefühl". In Ihrem Traum versinken Sie in Walter Benjamins Lieblingsfilm, Lonesome von Pal Etvös (1928). Der Zug hält in Dammtor, Sie steigen verschlafen in die S-Bahn um, wo sich eine ganz ähnliche Szene wiederholt. Nirgends ist Platz für das Träumen als in der Wirklichkeit.
Ich mag das sehr, wie Sie die Dinge transformieren. Man ist Flaneur in seinen eigenen Träumen und wandert von Bauchnabel zu Bauchnabel, alles genau und beschaulich beschauend.
Es ist schon bemerkenswert, wie die von Ihnen so schön geschilderte Bahnreise in den Kommentaren immer neue Richtungen und Wendungen erfährt. Wie eine kollektive Traumreise.
Dass Ihnen das neue Kills-Album gefallen würde, fürchtete ich bereits, als ich es in meinem Blog kritisierte (ich fand die ersten beiden besser). Wenigstens spricht für die Band, dass sie trotz des Hypes noch Konzerte für 18 Euro gibt. Viel Vergnügen!
Die ersten beiden gefielen mir besser. Auf dem neuen entdeckte ich bislang drei sehr gute Stücke, der Rest ist mir noch nicht hängengeblieben. Aber ich habe sie noch nie live gesehen, darauf freue ich mich schon.