Der Wetterbericht. Die Wetterlage.
An diesem Wochenende stand das Treffen der Neigungsgruppe Kummer & Trunk unter dem ebenso literarischen wie selbstironischen Motto "Stumpf & Vorurteil" - dabei natürlich wie stets einwandfrei gekleidet: Ringelhemd (2. Vorsitzender), schicke Strümpfe (Schriftführerin).
Am Bahnhof fiel mir wieder ein, wie schön es doch ist, liebe Menschen vom Zug abzuholen. Wenn man in steigender Erwartung die große Uhr ins Auge fasst, langsam engere Kreise um das richtige Gleis zieht, das Treiben dort beobachtet, zeitig die Treppe heruntergeht und eine günstige Position auf dem Bahnsteig sucht, aus der man einen möglichst guten Überblick behält.
Dann das aufgeregte Absuchen der Menschentrauben, die sich um die Türen der Waggons bilden, der gereckte Hals und scharfe Blick, mit dem man die Gesichter hastender Reisender sucht, bis man gefunden hat. Und nicht verloren. Das Haar, der Blick, das hochgereckte Transparent (imaginiert), "Reisegruppe Sowieso". Und dann die Freude, mit der sich die ganze gespannte Erwartung löst, das Hallo, die Umarmung - na, die meisten wissen, was ich meine. Und vermisse.
Für jemanden ein Käsebrot aufwärmen Kochen macht auch Spaß, so ein bißchen was Gutes tun, oder vortäuschen, man hätte irgendwie Ahnung, Hauptsache es schmeckt - dann aber bitte zum Aufarbeitungsteil. Diesmal gab es die schnapsbedrosselte Vorführung von Ghost World, einem meiner Lieblingsfilme, die Älteren erinnern sich. Steve Buscemi ist darin wie ich: ein unbeholfener Nerd, scheu und ein wenig andersweltig. Tolle Sache, und am Ende möchte man Hand an sich legen, ob solcher Traurigkeit.
Dagegen sprechen die Statuten von Kummer & Trunk, die Neigungsgruppe ist da streng und droht mit Ausschluß. Das Regelwerk – insgesamt komplex und nicht in Steintafeln gemeißelt – dreht sich um den Kernpunkt, auf einer nebelverhangenen Insel bis zum Morgengrauen auszuharren.
Vom Nebelhorn oder Lichtsignal anderer Schiffe, obwohl in der Nähe, nichts zu hören, nichts zu sehen. Sie ziehen vorüber.
Zeit des Zögerns. Wirren. Langsame Fahrt. Am Ende dann eine Geste, ein Kompliment, das wie ein kleines Licht im Fenster steht. Überhaupt: die sorgenden Fragen. Und Wünsche. Danke.
Aber "Ghost World" ist doch nicht traurig, nur schöööööön. Und der wunderbare Soundtrack auf CD, all die alten 78er und das irre indische Filmstück, muntern einen noch lange auf.
"Ghost World" ist, neben "The Hours" vielleicht, einer der traurigsten Filme, die ich kenne. Wenn man sich wie Enid fühlt. Oder Seymour. Oder beide. Vielleicht nehme ich auch einfach mal diesen Bus.
"Maybe I don't want to meet someone who shares my interests. I hate my interests." (Seymour)
Bei "Ghost World" habe ich zwar etwas später angefangen zu heulen als bei "The Hours", aber dann doch ähnlich intensiv und bis zum Ende durch. Der Soundtrack ist auch traurig. Alles.
"Everyone's too stupid." (Enid)
Das Brutale ist ja, daß der Fim so gänzlich unpathetisch ist. Seymour zeigt ja ein vielfaches mehr Haltung als ich zum Beispiel. Aber wenn man hinter der flockigen Oberfläche plötzlich merkt, was da alles gerade passiert... schrecklich. Spätestens, wenn man ahnt, wohin dieser Bus fährt.
Tja, bin ich im falschen Film? Ist meine Erinnerung an den Film geschönt? Aber, wenn "Ghost World" schon traurig ist, was ist dann erst mit "Donnie Darko"? Und wenn einen Skip James' "Devil Got My Woman" oder Robert Wilkins' "That's No Way To Get Along" nicht mehr begeistern können, wozu lebe ich dann noch? Bei Woody Allens Auflistung am Ende von "Manhattan", was das Leben alles lebenswert macht, dürften doch Filme wie "Ghost World" und seine Musik nicht fehlen.
Selbstverständlich macht "Ghost World" das Leben lebenswert! Keine Frage. Und ja, "Donnie Darko" ist schon auch traurig, aber anders.
Ich möchte zu dieser Aufzählung auch noch Anges Vardas
'Le bonheur' hinzufügen. Aussagen zu was das Glück nun sein soll findet man auf den DVD
extras - schlicht, aber doch ergreifend. (Hoffe dieser link ist gestattet, Herr Kid, sonst bitte löschen.)
Ich kenne den genannten Film überhaupt nicht, hab mir aber einige Stills angeschaut (Thora Birch). Und ich weigere mich, etwas zum Thema Verkümmerte Trinker so spät am Abend zu sagen. Aber: ein Satz hat sich mir eingeprägt: „Am Ende dann eine Geste, ein Kompliment, das wie ein kleines Licht im Fenster steht.“ Ich nahm das eine Weile wörtlich. Vergeblich! Audrii
Das Wort "vergeblich" mag ich gerade gar nicht lesen. Das Licht flackert, aber es gibt nicht viele gute Zeichen derzeit. Mir hat es sehr gut getan.
nix vergeblich: "there is a light that never goes out..."
Tja. Manchmal gehen die ewigen Lichter doch aus, ist ja nicht Blut, ist ja nur Wasser. Ist aber auch nicht ganz einfach mit mir.
(Das Fünkchen heißt Hoffnung.)
ununterbrochen werde ich aus zügen in arme und ein lächeln geholt, bin fast süchtig, könnte ewig reisen, ankommen, erwünscht. die, die da stehen, mich erwarten, schenken mir heimat, kreuz und quer. bahnhöfe sind zur zeit meine geburtstationen.
Schön. Sehr schön.
(Dieses Gefühl ist sehr wichtig.)
Oh, ah, Ghost World. Würde ich gerne mal wieder sehen. Diese Lücke im DVD-Schrank muss noch gefüllt werden.
Ich sollte mehr Bahn fahren. Oder
Segeln.
Großartiger Film. Nach dem zwölften bis 15. Mal schaffe ich es mittlerweile, das Ende ohne Heulen zu überstehen. (aus meinem Buch:
Wie ich Gregory Peck wurde)
Tja, Bahnfahren, Segeln, wegfahren, ankommen, doch da bleiben. Alles Möglichkeiten. Augen ganz auf oder ganz zu. Ich spreche Sie dann an. Der in dem Video bin ja ich, wie ich sehe: Man achte auf die
Graflex-Kamera. Die liegt hinten in meinem Buckelvolvo.
Hab Sie gleich daran erkannt. Auch an den ausdrucksvoll geschminkten Augen. Buckelvolvofahren, ach wie schön. So viele Möglichkeiten - dabei darf man nicht versäumen, sich für etwas zu entscheiden, sonst ist das Jahr schon wieder rum.
Even when the strings are cut - the music carries on in the plumbings of our hearts.
Tja. Ich werde mich nicht mehr von verstimmten Klavieren vertreiben lassen, sondern Musik machen. Oder Fotos. (Mein Gott, schon wieder soviele Möglichkeiten.) Entscheidungen, die man erzwingt, sind ja anders als die, die man aus vollem Herzen trifft, oft bloß trügerisch. Gefährlich.