Prost Maizeit



Wenn man so ein bißchen verpeilt verträumt ist wie ich, sind gewisse Strukturen hilfreich. Auf diese Weise kann ich mir gut merken, welche Dinge im Mai zu leisten sind. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, beginne ich traditionell wie die meisten Menschen mit der Steuererklärung. Und im selben Monat schon steuere ich nach Wien. Zum Ausgleich. Die Stadt bleibt mir ein entspannender und faszinierender Ort, wie ich gleich in meiner Wohnung im hinteren Stiegenhaus merke. Auch wenn die Zeit, wie mein Reisefoto beweist, dort in manchen Dingen stehengeblieben zu sein scheint, ist Wien zugleich unglaublich modern. Die Kabelbox in meiner Wohnung dort hat nämlich über 200 Fernsehprogramme, so daß ich eigentlich gar nicht nach draußen müßte, um etwas über die Stadt zu erfahren. Im Lokalsender sehe ich Dokumentationen über die umfangreichen, labyrinthischen Keller, die sich quer durch die gesamte Stadt ziehen, einige davon reichen bis zu vier Etagen hinab. Es waren Schutzräume und Lagerräume, Vieh wurde darin gehalten und Belagerungen mit ihrer Hilfe standgehalten. Von einem Nonnenkloster führten Gänge zur Burschenschaft der Universität. Das Kloster wurde vom empörten Bischof aufgelassen und die Nonnen schwer ins Gebet genommen.

Man ahnt, woher die innige Beziehung der Wiener zu den vielfältigen Verschachtelungen des Unterbewußten stammt. Oder besser: worin sie auch Ausdruck finden. Nunmehr wissend zwinkere ich den Wienern, nachdem ich doch einmal die Wohnung verlassen habe, leutselig zu. Sie halten mich für freundlich, nicken artig, sagen "sehr wohl" oder plaudern mit mir an der Supermarktkassa. Wollten sie mich doch in den Narrenturm sperren, so lassen sie sich nur wenig anmerken. Vielleicht, weil sie wissen, daß ich ja doch wieder heimfahren werde.

Ich mag das Konzept "Ferienwohnung". Nach zwei, drei Tagen habe ich meist wirklich den Eindruck, am anderen Ort nicht nur Tourist, sondern tatsächlich ein Einwohner zu sein. Ich grüße im Hausflur die anderen Mieter nachsichtig, weil ich weiß, welche Fernsehprogramme sie abends schauen, schaue nach der Post, trage wie andere Menschen selbstverständlich den Müll herunter, füttere die fette Katze der Concierge und schnappe mir schließlich den Straßenbesen, fege pfeifend wie ein lässiger Viertelbewohner den Gehsteig und scheuche fluchend und schimpfend Unbefugte und Rabauken fort.

Kurz bevor ich anfange, ein Nachbarschaftsfest zu organisieren, muß ich meist schon wieder heimfahren, aber bis dahin war ich ein vorbildlicher Bürger der Stadt. Gerne biete ich auch ganz Österreich, in der letzten Zeit in politische und organisatorische Turbulenzen geraten, unverbindlich meinen Rat an.

Ausfallschritt | 23:49h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
sid - Donnerstag, 18. Mai 2017, 01:24
Ich frag mich, wer (abgesehen von Putzbeauftragten oder HausmeisterInnen) den Gehsteig kehrt. Also wenn Sie nicht in der Stadt sind.

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kid37 - Donnerstag, 18. Mai 2017, 12:36
Ich komme aus einem Arbeiterviertel. Da standen die Frauen freitags oder samstags in der Kittelschürze und Kippe im Mund auf der Straße, nachdem die Mülabfuhr durch war, und kehrten den Gehsteig.

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sid - Samstag, 20. Mai 2017, 14:18
Jetzt darf ich das mal sagen: dafür bin ich zu jung *lach*
Bei uns gibts auch keine Kehrwoche u.ä. Liegt aber sicherlich auch an der Großstadt.

Wobei ich aktuell sehr gerne hätte, daß sich die Stadt drum kümmert, den aktuellen Blühdreck vom Baum (nächste Ecke) wegzumachen.
Bei jedem Hinstoß ziehen hier die weißen Fäden durch die Gegend und mittlerweile sieht die ganze Umgebung ziemlich unappetitlich aus.

Aber ich mag das von Ihnen gezeichnet Bild in der Kittelschürze und Kippe im Mund. So sahen die Hausbesorger früher bei uns auch teils aus : )
Abgesehen davon bin ich sowieso ein großer Fan Ihrer Wienbeschreibungen, aber auch das ist ja nix Neues.

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kid37 - Samstag, 20. Mai 2017, 15:23
Ich hingegen bin so alt, ich kenne noch Ascheimer. Hier hackt die Stadt, ganz modern, mehr und mehr Bäume ab. Dann flusen die auch nicht so. Jetzt aktuell hat das Unwetter aber viel Schlamm auf die Wege gespült. Da muß ich wohl gleich mal raus.

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sid - Sonntag, 21. Mai 2017, 03:51
Teppichstangen kenn ich auch noch (vom Rumturnen *g*) und Ascheimer in der Theorie (ganz dunkel auch in der Praxis - ich sag nur: Mutter, der Mann mit dem K. ist da *g*).

Schlamm ist nicht schön. Bäume abhacken noch sehr viel weniger : ((
Das mag ich an Wien. Daß es (leider nicht überall, aber doch) Bäume gibt. Und Gras. Als große Flächen oder Kackstreifen.
Bei Videoaufnahmen von oben muß ich nicht viel raten. Ich finde, man erkennt daran gut diese Stadt. Auch wenn es (obwohl Allergiker) viel mehr Grünanlagen, Grasflächen, Grünstreifen vor allem (!) und neu gepflanzte Bäume geben sollt.

Eigentlich so gernell in der Welt.
Wer braucht schon diese dummen Betonwüsten. (Okee, die haben auch manchmal was.)
Hier grad wieder im Bienen- und Hummelfieber.

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modeste - Sonntag, 21. Mai 2017, 03:36
Ach, Wien. Vielleicht in diesem Jahr mal wieder. Wenn nicht, müssen Sie auch für mich dorthin gefahren sein.

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sid - Sonntag, 21. Mai 2017, 03:53
Letztens dachte ich, das Herbstlesen, bei dem ich zugehört hab, ist auch schon über 10 Jahre her...
Wie fix manchmal die Zeit rum ist. Ich weiß sogar noch, mit wem ich hingegangen bin.

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kid37 - Montag, 22. Mai 2017, 21:49
Das stimmt, das war 2006. Ungaublich eigentlich. Die meisten von damals kenne ich noch, und weil wir so viel Wasser trinken, sind wir kaum gealtert! Frau Modeste, ich empfehle die Stadt ja immer wieder gern und fahre heuer notfalls für Sie auch noch ein zweites Mal dorthin.

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ladys smock - Samstag, 3. Juni 2017, 21:04
Beim letzten Satz bekomme ich ganz große Ohren, damit ich bald zugeflüstert bekomme "wann"

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kid37 - Montag, 5. Juni 2017, 21:04
Das war natürlich wenig erbaulich, daß wir uns nicht treffen konnten. Ich hoffe, das läßt sich bald nachholen.

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ladys smock - Donnerstag, 8. Juni 2017, 15:59
es gibt sozusagen durch Achilles, der auch nicht unverwundbar war, die Möglichkeit mich bis Ende August mit zwei Stöckchen kennen zu lernen. Sollte ich Ihnen eins zuwerfen dürfen, würde ich mich als sehr anhänglich erweisen ;)

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kid37 - Donnerstag, 8. Juni 2017, 21:57
Du meine Güte! Welche Heimtücke. Aber zum Glück nichts mit Mastbaum an den Kopf. Wir könnten als zwei Eingeschränkte durch Wien humpeln und bekämen auch einen Patz in der U-Bahn, da sind extra so Schilder.

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ladys smock - Donnerstag, 8. Juni 2017, 22:29
die kleben wir dann nebeneinander - das wär extra schön :)

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