Heimreisen



In dieser Kirche wurde ich getauft. Ich habe, so wurde mir später berichtet, geweint, aber nicht sehr, und dann wurde die Taufkerze angezündet und ergreifende Lieder gesungen. Meinte Mutter schwört, selbiges übrigens bis heute und notfalls vor Gericht, ich hätte in meinem Taufkleid eine engelsgleiche Figur gemacht. Gleich nach der Taufe fand in der Kirche eine Hochzeit statt.



Hier ging ich zur Grundschule. Einmal erhielt ich eine Ohrfeige und einmal mußte ich in der Ecke stehen. Beide Male, so erinnere ich mich dunkel, wegen sogenannter unaufgeforderter Beiträge zum Unterricht, vulgo "Schwätzen". Man wird nicht von heute auf morgen Klassenclown. Die Ohrfeige nahm ich verdutzt zur Kenntnis, war mir doch ein verwandtschaftliches Verhältnis zu meiner Lehrerin nicht bekannt. Das Eckenstehen (hinter einem Tafelflügel) fand ich in seiner Exponiertheit unangenehm, es hat mir auf Jahre weitere Bühnenauftritte versaut. Ich glaube, ich vermißte die Eselmütze, die man traditionellerweise bei solchen Gelegenheiten tragen muß. Stil war mir damals bereits wichtig. Sonst war aber alles gut, die Lehrerin wurde bald in Pension geschickt, wir bekamen eine sehr junge, sehr blonde schwedische Aushilfslehrerin, bei der alle immer die Hausarbeiten dabeihatten und die mir an meinen neunten Geburtstag in ihrem herrlichen Akzent sagte: "So alt wird kein Schwein." Da begriff ich das Konzept der geliehenen Zeit und wollte sie vom Fleck weg heiraten. Sie aber kehrte bald in ihre Heimat zurück.



Hier wohnte ich, seit ich sieben war. Damals, das muß ich gestehen, befand sich unten leider kein Bestatter, sondern ein Kolonialwarenladen, der von zwei Schwestern geführt wurde. Alten Damen, wir mir schien, dabei waren sie gerade einmal fünfzig. Bei Regen, und in der Stadt regnete es immer, lief die Schieferverkleidung noch grauer an, und das alte knarzende Haus schien mir eine abweisende, düstere Festung, in der man nicht zu laut sein durfte. Wir waren die armen Mieter unter dem Dach. Dort, auf dem Wäschespeicher, gab es ein geheimes Zimmer, in das man nur selten einmal schauen durfte. Die Schwelle durfte ich, in Beisein meiner Mutter und einer der alten Damen nur einmal übertreten. Es war gefüllt mit Schätzen, Spielzeug und Hausrat aus den Vorkriegsjahren. Und der noch geheimeren Schatulle des Verlobten der einen Dame, der "im Krieg geblieben" war, ehe es zu einer Hochzeit kommen konnte.



In dieser Straße habe ich das Radfahren erlernt. Es fuhren nur selten Autos und man konnte höchstens in eine Hecke fallen. Wenn man sich links hielt, eine Tendenz, die ich seither verinnerlicht habe. Vorne hatte die Straße kein Ende, und genau da wollte ich hin. Ich war mir sicher, dort so etwas wie einen geheimnisvollen weißen Schleier gesehen zu haben.



In einem dieser Häuser wohnte ein Mädchen, das mit mir zur Schule ging und in das ich, heute kann ich es zugeben, ein wenig verknallt war. Da war ich acht oder neun. Ich muß mich wohl ein wenig auffällig verhalten haben, dabei bin ich kaum öfter als vier Mal am Tag an ihrem Haus vorbeigelaufen. Eines Tages sprach sie mich im Beisein ihrer Freundin an, und ich leugnete mannhaft alles. Wir haben nie geheiratet, obwohl ich damals für eine kurze Zeit darüber nachdachte.



Hier gibt es seit nunmehr 60 Jahren das beste Eis der Stadt. Als ich noch klein war, torkelte ich an einem heißen Sommerabend glückstrunken die Stufen hinunter aufs Trottoir, ein triefendes Erdbeereis in der kleinen schwitzigen Hand, voll zittternder Vorfreude erfüllt, als drei ältere Jungs (einer in einer blauen zerrissenen Jeans-Jacke mit einer Haarbürste mit Metallgriff vorne links in der Brusttasche, falls sich die Ermittlungsbehörden endlich einmal dafür interessieren möchten!) mir im Vorbeigehen das Eis aus der Hand schlugen. Während ich empört und verdutzt dem schmelzenden rosafarbenen Klumpen auf dem heißen Asphalt mit noch heißeren Tränen in den Augen zusah, beschloß ich, mich fortan kämpferisch gegen die Ungerechtigkeit in der Welt einzusetzen. Ab einem gewissen Alter, also später, konnte man sich in der Eisdiele auch mit fröhlichen Mädchen treffen, die niemals allein kamen, lustige Lieder kannten, nie übers Heiraten sprachen, einem aber manchmal erlaubten, von ihren Löffeln zu lecken.



Claim to fame. Hier hat Ann-Kathrin Kramer gespielt. Ich auch. Frau Kramer wohnt immer noch in Wuppertal. Ich nicht. Wir haben uns nie kennengelernt. Ich hegte ihr gegenüber niemals Hochzeitspläne.

Homestory | 12:41h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
prieditis - Montag, 17. Mai 2010, 13:23
jetzt ist mir ganz wehmütig ums Herz...

Mir wurde nur ein einziges Mal das Ohr lang gezogen, in der Ecke stand ich auch und weil ich im Museum mal einen an einer Kette befestigten Hammer anrührte (rührte, nicht fasste), durfte ich 2 Seiten aus dem Lesebuch abschreiben und auswendig lernen. Ansonsten war ich recht geschickt, was dem Ausweichen der vom Katheder Lehrerpult zugeflogenen Kreide und Schlüsselbündeln betraf. Geworfen wurden diese Gegenstände im übrigen keineswegs nach Softball-Regeln. Der Lehrkörper war stets auf ein "Perfektes Spiel" bedacht...

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kid37 - Montag, 17. Mai 2010, 16:56
Auf dem Gymnasium später wurde ich Experte für das Abschreiben der "Hausordnung". Das lag teilweise aber an unserem irischen Englischlehrer, der solche Disziplinarmaßnahmen gerne klassenverbundweise befahl, bis man ihm deutlich machte, daß Kollektivstrafen in Deutschland außer Mode gekommen seien. Der einzige Ire, vermute ich, der die Deutschen nicht mochte.

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nnier - Montag, 17. Mai 2010, 13:33
Und ich denke immer, es sei die verklärende Erinnerung, die in meinem Kopf alles so nach Faller-Häuschen aussehen lässt. Gut, das mit dem Bestattungshaus haben Sie sich ausgedacht. Aber von subtilen Unterschieden (Eiscafé Venezia statt Venedig) abegesehen erkenne ich hier doch vieles wieder.

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tama - Montag, 17. Mai 2010, 14:24
Mir gefällt die Art, wie Sie diesen Beitrag verfasst haben. Man gewinnt den Eindruck, dass Sie ein Stück Ihres Herzens dort gelassen haben.

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kid37 - Montag, 17. Mai 2010, 16:52
Seit ich nur noch zu Besuch dort bin, schaue ich versöhnlicher zurück. Und, Herr Ninner, das mit den Faller-Häuschen stimmt. Das letzte Geld der Stadt muß in Fassadenerneuerung geflossen sein. In den nächsten Tagen werde ich aber auch andere Seiten zeigen.

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engl - Montag, 17. Mai 2010, 18:20
mutig. dahin, wo ich kind war, traue ich mich noch lange nicht. aber wuppertal ist ja auch ganz schön.

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kid37 - Dienstag, 18. Mai 2010, 13:31
Bei Sonnenschein zeigt die Stadt unglaubliche Kontraste, ich werde da noch ein paar Bilder nachlegen.

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fishy_ - Montag, 17. Mai 2010, 18:33
Sie sind doch noch viel zu jung für Memoiren... Das erste Kapitel ist aber nun geschrieben und ich freue mich schon auf den Rest in 30 Jahren.

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kid37 - Dienstag, 18. Mai 2010, 13:38
Aber bei diesem reichen Leben! Das kann nur in mehreren Bänden erzählt werden. Allein ein Band für Erfindungen und technische Verbesserungen, dann natürlich Natur & Forschung I - IV, mein zentrales Werk. Bemerkungen zur Kunst und Weitere Bemerkungen zur Kunst, das vorab bereits erschienene Wie ich das 20. Jahrhundert zerstörte: Lärm, Rhythmus, Rock'n'Roll. Dann die Reisebände - und natürlich die Romane. Mein Gott, wo nehme ich die Zeit nur her?

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ulfur grai - Montag, 17. Mai 2010, 19:26
Wuppertal und Latein
Sie glauben gar nicht, wie viele meiner ehemaligen lateinischen Vokabelkenntnisse ich dem dauerverregneten Agglomerat voneinander fast isolierter Stadtteile im Tal der Wupper zu verdanken habe.
Damals, als Latein noch zu meinem schulischen Pflichtprogramm gehörte, war m.W. übrigens niemand Wuppertaler, sondern wer das Pech hatte, dort geboren worden zu sein (für diesen Teil Ihrer Biografie haben Sie jedenfalls mein vollstes Mitleid), bezeichnete sich als Elberfelder, Sonnborner, Ober(er)barmer usw. Dieses Schicksal blieb mir erspart, und ich ging in der nahen Landeshauptstadt zur Schule. Mein Lateinlehrer allerdings kam aus, ich glaube, Vohwinkel. Da unten am sonnenbeschienenen lieblichen Gestade des Rheins niemand Vohwinkel oben hinter den sieben Bergen und den sieben Regenschleiern kannte, bezeichnete er sich notgedrungen als Wuppertaler und hielt, unbelehrbar wie Lateinlehrer sind, in unverbrüchlicher Nibelungentreue stur zu dem einzigen geselligen Zusammenschluß, den die Ober- und Unterbarmer und Elberfelder etc.pp. damals zuwege gebracht hatten, dem Wuppertaler SV.
Ich gebe zu, es gab einige Spielzeiten in der Regionalliga, da mußte die Fortuna sich mit dem WSV abgeben, ehe sie endlich verdientermaßen in die Bundesliga aufstieg. Den WSV wurden wir aber nicht los, mußten vielmehr jeden Sonntag dessen unmaßgebliche Spielergebnisse in der zweiten und dritten Liga zur Kenntnis nehmen, denn... verlor der WSV am Wochenende, erschien unser Pauker montags unweigerlich schlechtgelaunt im Unterricht und fragte, mit gezücktem Notizbüchlein, gnadenlos Vokabeln ab. Und diese Gurkentruppe von WSV hat so andauernd verloren, daß ich Ihnen heute noch die Stammformen von agere und anderen unregelmäßigen Verben runterbeten könnte.

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prieditis - Montag, 17. Mai 2010, 20:04
Vohwinkel
bei Gräfrath, dem Tal der langen Messer...

Der WSV bestach mal vor allem durch sein VIP-Zelt: Eine weiß bekittelte Dame hielt Bockwürste parat. Grandios! Ich mag die Stadt der fliegenden Busse! Und im November gibt es dort gar einen ECHTEN Heiko Müller* zu sehen! =)

*Resident, möchte man fast sagen, bei Feinkunst Krüger

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kid37 - Dienstag, 18. Mai 2010, 13:45
Erbarmen!
Herr Grai, danke für die Erinnerungen. Die Stadt ist tatsächlich ein zersplittertes Konglomerat. Zwei Rathäuser (eigentlich noch mehr), zwei Fußgängerzonen, hohe Schulden und keinen Bundesligaverein - wundert es, daß ich in der Nähe des Berliner Platzes großgeworden bin? Wuppertal ist Hauptstadt, könnte man sagen. Nur kleiner.

Der WSV andererseits spielte ja nun auch mal in der Bundesliga (und sogar im UEFA-Pokal), so ist das nicht.

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lorilo - Montag, 17. Mai 2010, 22:15
Eine schöne melancholische Homestory.

(Liegt es am Mai, dass Ihnen alle Frauen einfallen, die Sie (auch) nicht geheiratet haben oder wo Sie nie den Wunsch verspürten?)

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kid37 - Dienstag, 18. Mai 2010, 13:46
Dieses Jahr heiratet mein Bruder. Es ist nicht so als wüßten wir nicht, wie es geht.

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kaltmamsell - Montag, 17. Mai 2010, 23:07
Oh, schön. (Und hochinteressant, natürlich.)

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kid37 - Dienstag, 18. Mai 2010, 13:46
Gern!

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hr.fuenfprozentfrau - Dienstag, 18. Mai 2010, 23:01
Das war bestimmt der, der mir meine mit den Worten "... aber eine schöne Bürste hast Du.." aus der Brusttasche geklaut hat. Ich war froh, so glimpflich davonzukommen. Aber das C. sich danach zehn Minuten lang vor Lachen nicht mehr einkriegte habe ich ihr doch übelgenommen.
Und der ist von Lübeck nach Wuppertal?

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kid37 - Mittwoch, 19. Mai 2010, 12:53
Ihre sieht ein bißchen anders aus. Aber vielleicht hatte er den Griff ausgetauscht oder versilbert. Wuppertal hat ja eine lange Tradition der Metallverarbeitung.

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