Freitag, 6. Oktober 2023
Um 1882: Eine Birne verspricht glühende Landschaften
Ich muss meine langwierigen Betrachtungen über Brüssel im Zwielicht kurz unterbrechen, um ein Licht auf eine Erfindung des 19. Jahrhunderts zu werfen, die die Welt buchstäblich erhellte: die Glühbirne. Am 1. Oktober wurde weltweit der Change-a-Lightbulb-Tag gefeiert, ein Birnchen-wechsel-dich-Tag, der zum Energiesparen aufrufen soll (Es ist natürlich auch ein Tag für allerlei schmale Witze à la "Wieviele Blogger braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?" usw.).
Werbeprospekt für die elektrische Glühbirne um 1882
Erfunden hat das kleine Zimmerwärmewerk bekanntlich nicht etwa Thomas Alva Edison um 1880, der hat es wie so viele seiner "Erfindungen" nur "vorgefunden" und "verbessert". Oder sagen wir so: Zum Patentamt hatte er kurze Wege. Um 1875 bis 1880 herum kamen jedenfalls mehrere Erfinder (auch in Deutschland) zeitgleich auf die Idee einer Glühlampe mit hochohmigen Glühdraht, was einige technische Vorteile bot. Einige Entwürfe und Prototypen wurden auch auf der Pariser Weltausstellung 1878 vorgestellt - zusammen mit dem Eiffelturm, weshalb dieser auch bis heute elektrisch beleuchtet ist. Seither hieß es - in besser gestellten Häusern zunächst - "Es werde Licht", und es ward Licht.
Arbeiterin in einer Glühbirnen-Reparaturwerkstatt, die im viktorianischen London bald wie Pilze aus dem Boden schossen
Wie immer bei neuen Moden gab es im viktorianischen Zeitalter einen allzu menschlichen Hang zum Exzess. Manche wollten sich nicht länger "gaslichten" lassen und hängten sich nun die Zimmer übertrieben voll mit Glühbirnen, brachten Licht ins Dunkle und Dämmrige, vertrieben erst die Schatten, dann die Triebe, fingen massenhaft an zu lesen und in der Folge an, Ideen zu entwickeln.
Neben der für ihre anzüglichen Posen beliebten "French Card" wurden auch Karten aus dem Genre "das elektrische Schlafzimmer" eifrig gehandelt
Die Glühbirne wurde zum Accessoire de Jour, fand mit ihrem wendelförmigen Gedrahte Einzug in Mode und Schmuckornamentik, (die halbe Welt des späteren Art deco basierte nicht von ungefähr auf dem gezielten Einsatz von Licht) und galt ganz allgemein als Statussymbol. "Darf ich ihnen zu Hause meine Glühbirne zeigen?" lockte so manches unterbelichtete Fräulein und hin und wieder auch den ein oder anderen naiv gedimmten Herren in wenn auch nur schummrig beleuchtete Bedrängnis (anders als heute üblich hatte man natürlich keine 100-W-Strahler als Nachttischlampe). Kurz: die Welt war elektrifiziert und zeigte dies gerne.
1905 kam es zur ersten bekannten Wahl einer "Miss Glühbirne"
Lange vor der Neuen Sachlichkeit fand die Glühbirne bereits als strahlend in Szene gesetztes Objekt der Begierde Einzug in die Welt der Fotografie. Nach dem augenzwinkernden Motto "Mit Magnesiumblitzen auf Glühbirnen!" wurden waren Lichterfluten inszeniert, und in den nur im Halbdunkeln gehandelten freizügigen Pin-up-Katalogen dieser Zeit fanden sich leicht bekleidete Damen in freizügigen Posen im Schein von glimmenden Kohlefaserdrähten.
Um 1900 bereits wurden zur Weihnachtszeit Karten mit festlicher Glühbirnendekoration an die Liebsten verschickt
Dienstag, 19. September 2023
Foto-Hotspot Brüssel: Stets steht jemand im Weg
Noch immer fehlt mir für das Konzept "Brüssel" die Zange, um die Stadt als solche zu ergreifen. Mein schon auf der Hinreise überpackter, schwerer Koffer - auf der Etappe bereits um das eine oder andere erleichtert - kehrte vollgestopft mit Widersprüchlichkeiten heim. Eine Stadt, in der liebliche Jugendstilmuster an Brut-Beton stehen, moderner Finanzprunk neben altem Barockprunk, mittelalterliches Kopfstein sich vor Bankentürmen pflastert, lässt sich schwer in Schubladen pressen. Mein Hotel (Notiz an mich: beim nächsten Mal bitte wieder Ferienwohnung) lag zentrumsnah zwischen dem Kunstberg mit seinen Museen und der berühmten Kathedrale St. Michael und St. Gudula (der Schutzheiligen der Stadt), was für einen ersten Besuch nicht ganz dumm war. Die wichtigsten Sehenswürdigkeiten hat man so als lahmender Fußgänger schnell beguckt - oder wenigstens erhascht. Denn in Brüssel gilt: Was auch immer man fotografieren will, es steht jemand im Weg (s. Abb. 1).
Brüssel: Männeken-Pis, Schutzpatron der Blasenschwachen, mit zeitgenössischer hl. Monstranz und moderatem Strahl
Insbesondere die international bekannten Nationaldenkmäler, wie der berühmte freimütig pinkelnde Knabe, der wirklich sehr klein ist, sind von Touristen umlagert. An Stöcken halten sie ihre Smartphone-Monstranz in die Höhe, um ein Foto vom kleinen Männchen machen zu können, Reiseführer erzählen derweil schlüpfrige Anekdoten vor kichernden Menschen, die ebenfalls schnell noch ein Selfie beim Wassersport machen wollen. An vielen anderen Plätzen dasselbe Spiel. Anders als das Männeken-Pis, läuft Brüssel einfach über. Man kommt darüber aber auch ins Gespräch. Eigentlich in dem Alter, in dem man für junge Frauen unsichtbar geworden ist, wurde ich immer wieder unerwartet von freudestrahlenden Asiatinnen angesprochen (wohl, weil ich fünf Kameras umhängen hatte), die mir mit "Can you take my picture, pleeeese?" ihr Smartphone in die Hand drückten und wie für einen Reisekalender vor Säulen oder pittoresken Wänden posierten. Allein deshalb ist es wichtig, mit der Entwicklung Schritt zu halten und moderne Kulturtechniken wie die Handyfotografie zu erlernen!
Wuppertal: Männeken-Pis, abstrakte Version "Heimwerker", mit ordentlich Druck
Insgesamt lohnt sich ein Vergleich mit der Zwischenetappe Wuppertal, eine Stadt die man auch Klein-Brüssel nennt. Ähnlich zerrissen und widerspenstig, retro-modern (was der einen Stadt ihr Atomium, ist der anderen die Schwebebahn) und oft auch rott - und beide mit imposanten Bankentürmen (gut, in Wuppertal ist es nur die Sparkasse). Auf das Wuppertaler Männeken-Pis, nicht weniger imposant, dafür abstrakter in der Ausführung, hat man bei für die Region typipschen Starkregen immerhin freie Sicht für eindrucksvolle Fotos. Touristen, die hier ein Selfie machen wollen, gilt es allerdgins erst noch anzulocken. (Liebe Stadt Wuppertal, hier braucht es eine interessante Backstory. Sprecht mich an!)
Brüssel: Bücherschrank mit Gravitas an Prachtbau
In Brüssel aber überall Kunst, Literatur und Musik: Es gibt die Fondation Brel, die sich dem Leben und Werk Jacques Brels widmet, ein ausnahmsweise nicht von Victor Horta, dem stadtbildprägenden Jugendstil-Architekten, entworfenes Musikinstrumentenmuseum, profan-sakrale Bücherschränke und Antiquariate, eine Klanginstallation mit Vogelstimmen in einem wirklich sehr kleinen Park, erstaunlich wenig Graffiti in der Innenstadt (aber auch erstaunlich viele Überwachungskameras), eine Theater- und Musikbühne im Königlichen Park, sogar surreale eScooter-Fahrten sind dabei.
Nahe des Magritte-Museums gibt es eScooter für geisterhafte Touristen im Schulze & Schultze-Look
Ansonsten sind auch hier die Dinger wie überall eine Pest, stehen oder liegen kreuz und quer auf Gehwegen - und haben noch nicht einmal ein Nummernschild. Eine EU-Verordnung wäre hier angebracht oder eine konsequente Verfolung durch das weltberühmte Detektivduo aus den Tim & Struppi-Comics.
Rockstars international - allerdings nur männlich - an einem Fachgeschäft für Schallplatten
Man spricht übrigens viel Englisch in der Stadt, was teilweise auch zu einem verwirrenden Gemisch aus Französisch, Flämisch, Englisch und sogar Deutsch führen kann. Als Hamburger fragt man sich irgendwann, warum so viele Straßenbahnen nach Stade fahren, Homophonie ist halt ein trügerischer Freund. Selbst Weltliteraten haben hier viel aufgeschnappt. So kam Thomas Mann bei seinem Besuch in Brüssel einst eine wunderbare Idee für den Titel eines Familienromans.
Der Ursprung der Buddenbrooks wird heute oft fälschlich in Lübeck vermutet
Mit solch verwirrenden Eindrücken schleppt man sich abends dann müde zu Bett, wo sich bald im Traum allerlei floral gewundene Jugendstilmuster um einen ranken, Wasserfontänen aus kleinen Brunnen schießen (unbedingt schnell noch mal aufstehen!), asiatische Frauen mit Smartphones winken und Melonen-tragende Herren auf eScooter um einen herumkreisen.
Dienstag, 5. September 2023
In einem meiner Reiseführer steht sinngemäß, "Die Liebe zu Brüssel muss man sich erarbeiten", und als Experte für komplizierte Herzensangelegenheiten fühlte ich mich da natürlich sofort herausgefordert. Ein vielversprechendes Ziel zur Herzensbildung und hoffentlich auch Unterhaltung, dachte ich. Möglicherweise auch ein Experiment in Unterwerfung, denn diese Stadt hat mich ja noch nicht gesehen und präsentiert sich vielleicht ganz zauberhaft.
Brüssel: wo Altes und Neues als ständige Bruchkante aufeinandertreffen
Über Etappen gestreut (acht Stunden im Zug möchte ich nun wirklich nicht mehr sitzen, zumal dabei andere Menschen um einen herum sind) war die eigentliche Reise überraschend erträglich. Wagenreihung mal so, mal so, Verspätungen aber minimal, und selbst eine zum Wochenende aufgedrehte heitere Frauengruppe im Ruhebereich auf der ersten Etappe verabschiedete sich bierflaschenklimpernd recht bald ins Bordbistro. Dazwischen nur Landschaft, sobald man den flachen Norden erstmal verlassen hat. Fachwerk, Schiefer, Restgrau, gemischt mit Schloten und Industrieanlagen, also herzerwärmend, dann wird es hügeliger und talsperrenreicher - und zack, ist man in der Stadt mit dem Schwebebahnelefanten.
Brüssel: Selbst der Himmel ist hier wie mit einem Schnitt mit dem Küchenmesser zur Collage geteilt
Von Wuppertal aus sind es nach Brüssel gerade einmal zweieinhalb oder drei Stunden. Köln, Aachen, Lüttich, fettich. Ab der Grenze piepsen Mobiltelefone wegen Informationen zu Roaming, das Licht ändert sich merklich (belgische Sonne andere Sonne), die Architektur noch merklicher. Kurz der Gedanke, gleich bis Ostende ("Oostende") durchzufahren, Brügge, Knokke, knorke, aber das vielleicht beim nächsten Mal. Dann ohne Herbstjacke im Koffer, aber mit Badehose! (Koffer viel zu überladen, ich reise wie Lady Gaga.) Nun aber, am Nordbahnhof natürlich nicht auf der Schmuckseite, sondern zwischen Baustellen, olfaktorischen Problemzonen und flüsternden Genussmitteldienstleistern raus, dann hoppelhoppel mit dem Rollkoffer durch die Gluthitze zum Hotel, Navigation ist schließlich erste Pfadfinderpflicht. Unterschätzt habe ich das hügelige Gelände, denn Brüssel ist wie Rom oder Wuppertal oder andere Weltstädte auf solchen gebaut. Ich sag' es gleich: Wer nicht Wuppertaler oder Römer ist, lacht hier nicht. Es gibt ein oben und ein unten, ein alt und ein neu, eine Sprache und eine andere Sprache, und entlang dieser Brüche hangelt man sich durch.
Follow the Money: Finanz- und Verwaltungstürme stehen wuchtig im Weg
Man bekommt aber gleich einen Eindruck von Dimensionen, dem Sound einer Stadt und seiner Lautstärke, den Ideen, was "Gehwege" sein sollen (immerhin bewegen wir uns hier im Zentrum der EU und ihrer Verordnungen) und den opaken Wegen der Geldströme. "Follow the money", heißt es und auch ein Grund, weshalb ich und meine Maggie-Thatcher-Handtasche überhaupt dort waren, aber auch hier eine gewisse Sperrigkeit: Aus Gründen konnte ich im Hotel nicht mit meiner Kreditkarte zahlen, es wurden also Wege und Ideen entwickelt, um die Summe bar (es lacht!) und NFC-Funkwellentechnologie (modern!) zusammenzukratzen, während mir im Nacken eine Mischung aus Angst- und Hitzeschweiß, Debit und Kredit genannt, und allgemeinem Unwillen zusammenlief.
Dämmern in der Stadt floral gewundener Träume: Fenster zu Höfen
Endlich aber Rast. Gedankensammeln, Fernsehprogramme kontrollieren, Fensterblicke riskieren und kleinen Gang durch die Gemeinde planen.
Montag, 28. August 2023
Obzwar ich bereits einige Tage wieder daheim bin, also in Hamburg, einer großen Stadt im Norden, muss ich mich noch ein wenig sammeln. Über einige Etappen hinweg war ich ja verreist mit der großen Bahn, und aus meinen Reisetagebüchern geht hervor, dass Wer eine Reise tut, kann etwas erzählen. Dieser oft gehörte Spruch ist immer wieder wahr, wie jeder Aufenthalt im "Ruhebereich" eines Großwaggons vermittelt. (Ausriss)
Zu den weniger bekannte Ursachen für eine verspätete Abfahrt gehört übrigens die Dokumentationsfotografie, wenn insbesondere ältere Männer mit ihren übergroßen Koffern (in meinem Fall) oder mitgeschmuggelten Exotika (Skiern, Bassgeigen, Oktopusse) wegen der langen Belichtungszeiten der Plattenkamera für Verzögerungen am Bahnsteig sorgen. Immerhin kommt man ins Gespräch. So erfuhr ich von dem anderen, mir ansonsten unbekannten, Fahrgast, dass Oktopusse, sofern sie in den Koffer passen, als Handgepäck zählen und nicht im Gepäckwagen untergebracht werden müssen. Eine Information, frisch auf Reise gesammelt, die dem ein oder anderen vielleicht nützlich sein könnte.
Im Hotel (ich spare jetzt Abenteuer auf Zwischenetappen aus) wurde ich sehr freundlich empfangen, selbst als mir eine Dame des Hauses blumenreich und bedauernd erklärte, dass ich mit dem zwar 150 Jahre dort verwahrten, aber frisch aus der Schatulle entommenen Bargeld nicht bezahlen könne (das Konterfei unseren lieben Kaisers bürgt nicht mehr für Kredit), und auch die mitgeführten Empfehlungsschreiben der kaiserlichen abentürlichen Gesellschaft, die mich als "Master" auswiesen in dieser Hinsicht keine Hilfe wären. Was sind das nur für Zeiten! Am Ende fanden wir aber eine hier nicht ausführlich zu deklarierende Lösung und ich konnte mein Zimmer beziehen.
Dort gab es zum Glück ein Radioempfangsgerät, so dass ich tatsächlich Nachrichten aus der Heimat und auch die Hörreportage eines Fußballspiels verfolgen konnte. Ausriss: Aus der Heimat erreichen mich ferne Klänge über politische Klage, Nachrichten das Wetter betreffend und auch eine Übertragung eines Fußballspiels, bei dem es am Ende einen Sieger gab. Wunder des Äthers! Man reist über hunderte Kilometer und bleibt doch mit der Heimat verbunden! Es müsste so ein Gerät für "immer dabei" geben.
Details folgen noch, bin jetzt erst einmal damit beschäftigt, einige Unordnung, die durch Staub und ein paar kleine Hausspinnen, die wegen der großen Hitze in die Wohnung geflüchtet sind, entstanden ist zu beseitigen. Dem müden Wanderer winkt keine Rast, heißt es. Und es stimmt. (Ausriss) Werde noch Ergänzungen in meinen Reisenotizen vornehmen und und sofern es mit meinen Terminen kommodiert, noch das ein oder andere Unerhörte berichten.
Montag, 7. August 2023
Ich bin ja nur 5 Millimeter davon weg, die Idee, jetzt noch kürzestfristig für einen Urlaub irgendwohin zu fahren, noch kürzerfristig zu verwerfen. Man kann ja stattdessen auch einfach durchdrehen, die eingebrannte Reiseunfähigkeit eingestehen und schlicht abwarten, bis auch dieser soziale Druck, im Sommer UNBEDINGT ETWAS MACHEN SEHEN UND DOKUMENTIEREN zu müssen, vorübergeht. Einerseits.
Andererseits sehe ich gerade dieses entzückende, offenbar von einem US-amerikanischen Filmregisseur, auf dessen Namen ich gerade nicht komme, beeinflusste Video der Londonerin Matilda Mann, die eine dieser zahlreichen jungen Gitarrenklimperinnen mit smarten Texten ist, die es jedes Jahr zu entdecken gibt. Sehr charmant auf jeden Fall und auf den Punkt. Ihr Video basiert auf der Behauptung, auch sie könne etwas nicht und werde von ihrem Umfeld ermuntert, es einfach "day by day" zu versuchen und zu trainieren. Sie ist mehr so Typ "na ja", aber am Ende, natürlich, natürlich, ich verrate jetzt mal das Ende, geht es schon, nun ja, versöhnlich aus.
Ich will mich eigentlich mit dem Sommer überhaupt nicht versöhnen, auch wenn es dieses Jahr zahlreiche kühle Regengebiete gibt, die ein menschenwürdiges Auftreten in sogenannten Urlaubsgebieten versprechen. Wenn man denn erstmal dort ist. Dann aber: Jacke tragen, und sei es nur eine leichte, Haltung bewahren und nicht herumlaufen wie ein verschwitzter Lump. Nun ist mir das aber alles zu weit, zu kompliziert, zu teuer auch. Eine gewisse Unwirschigkeit legt sich bei diesem Thema wie eine weitere dunkle Wolke über mich. Wir stellen fest: Unter der weitgestreuten Talentlosigkeit in meinem Leben nimmt die Urlaubsplanlosigkeit einen vorderen Rang ein. Dieses Syndrom ist selten, es hat noch nicht einmal einen fancy lateinischen Namen. Aber auch das gibt es.
Und jetzt hat unweit meines Leuchtturms auch noch ein Strand eröffnet. Mit Kanuverleih. Man darf dort zwar nicht schwimmen (offiziell), aber immerhin abhängen und vielleicht einen sunny Beachball aufblasen. Wozu also, soll man noch weg, frage ich. Ich kann zu Fuß dorthin. In zehn Minuten bin ich da und muss noch nicht einmal über den Hauptbahnhof.
>>> Geräusch des Tages: Matilda Mann, You Look Like You Can't Swim
Freitag, 4. August 2023
Im 19. Jahrhundert erblühten bekanntlich die exzentrischsten Hobbys und Angewohnheiten. So polierten freitags abends, wenn die Pflichten der Woche erledigt waren, ledige viktorianische Damen gerne die Schädel ihrer Ex-Liebhaber. Heute unvorstellbar? Hoffentlich. Aber in der von allerlei Morbiditäten angekränkelten Zeit des Viktorianismus, in dem der Trauerkult extreme Blüten trieb, war dies ein verbreiteter Zeitvertreib und eine stille Genugtuung für die Damen.
Häufig wurde die Schädelkollektion ganz ungeniert und mit einem gewissen Stolz im Salon postiert. Sie waren Gesprächsstarter und Eisbrecher für Smalltalk bei geselligen Soireen, wenn man nach Trunk und Spaß beim Kartenspiel und spiritistischem Schabernack noch ein Thema für die gepflegte Konversation suchte. Man muss immer wieder daran erinnern: Fernsehen oder gar Streaming gab es ja nicht! Die Kultur- und Sittengeschichte geht über solche Dinge heutzutage hinweg, aber die Zeiten waren grimm, und die Gier nach Abwechslung und Frivolitäten groß.
Apropos, Frivolitäten. Eros und Thanatos trafen natürlich auch auf Spitzendeckchen wie Ying und Yang zusammen. Solche Bilder und Gesten sind daher Lockung und Warnung zugleich: Was süß beginnt, wird knöchern enden.
(alle Fotos aus dem Archiv für Trauerkultur, private Sammlung)
Sonntag, 30. Juli 2023
Wenn man wie ich nicht mehr viele Abenteuer in unerkundeten, nur auf geheimen Karten verzeichneten Gebieten erlebt, gräbt und bohrt man tiefer in den Archiven oder liest gemütlich zu Kaffee und Kuchen (aber ohne Pfeife und Ohrensessel) die Berichte anderer Autoren aus der Jugend. Und mag das Verhältnis zwar immer zwiespältig gewesen sein - aber am Ende kehrte ich zu einer Reihe zurück, auch wenn mancher da den Kopf schütteln mag. Früher war das nämlich so: War man als Kind mit Tim & Struppi durch, blieb für an Comix Normalinteressierte nicht viel. (Es war die Zeit vor dem Internet und internationalem Bestellwesen.) Viele wichen von Hergés Ligne Claire aus auf die Schule um Franquin (Gaston, Spirou) oder griffen - ebenfalls aus dem Hause Carlsen - zu Edgar P. Jacobs' Blake und Mortimer. Der war einst Mitarbeiter von Hergé gewesen und hat schon deshalb seinen Platz in der bedeutenden frankobelgischen Comixschule sicher.
Die wilden Geschichten um den walisischen Geheimdienstbeamten Blake und seinem Freund, dem genialen Halb-Schotten und Professor für alles Mögliche Mortimer spielen in der Zeit zwischen den 40er- und 60er-Jahren und bedienen sich eifrig an allerlei Themen und Motiven aus Pulp und Abenteuerroman, Fantastik und Spionagethriller, Kriegsabenteuer und Sci-Fi-Welten. Wunderwaffen und Dinosaurier, antike Kulte und Konspirationen, die ein oder andere mühsam geduldete Femme fatale (Jacobs wirkt da eher pikiert), einen wiederkehrenden Erzschurken und alles getränkt in britischem Patriotismus und Weltüberlegenheitsattitüde. (Eine Ausnahme bildet der eher pessimistische Band Die teuflische Falle von 1962.)
Alles ein bisschen brav also oder auch bieder, dann aber immer wieder auch herrlich absurd in der atomiumhaften Fortschrittsgläubigkeit der 50er-Jahre (1946 erschien die Serie zum ersten Mal) mit den Träumen von Überschall und Radiowellen tiefster und allerhöchster Frequenzen, der Entdeckung antiker Ausgrabungsstätten und ihrer (militärischen) Geheimnisse, Kalter-Kriegs-Methoden um Gedankenkontrolle und Kampfbomber, die den Frieden sichern sollen. Schmuck gezeichnet, etwas kantiger als Hergé, aber auch über längere Strecken zäh erzählt. Berüchtigt ist Jacobs' Hang zu salvenartig verstreuten und überflüssigen Textblöcken in seinen Bildern. Ein fast selbstparodistischer Klassiker zeigt Leutnant Blake (oder welchen Rang er da gerade hat) wie er bei bei einer nächtlichen Zugfahrt aus dem Fenster schaut und dazu die Unterschrift "Blake schaut aus dem Fenster".
Nachdem ich eine kleine Reihe damals erhältlicher Titel angesammelt hatte, war mir das irgendwann zu langweilig. Ich verstieß, also verkaufte, die Bände - nur um dann Jahre später die Sammlung wieder anzufangen. Man darf nicht so leicht genervt sein! Jetzt ist also Band 26 der deutschen Übersetzung erschienen. Mittlerweile wird die Reihe nach Jacobs Tod 1987 von verschiedenen Autoren und Zeichnern (zeitweise von Ted "Ray Banana" Benoît) fortgeführt, die teilweise die Überfrachtung mit Textblöcken behutsam entschlackten (oder aber wie bei Jean Van Hamme auch steigerten), den altmodischen Charme der Geschichten dabei aber gut bewahrten. Der frisch erschienene Band Acht Stunden in Berlin etwa spielt 1963 in der geteilten Stadt und erzählt mit aus Hitchcocks Der zerrissene Vorhang bekannten Motiven eine wilde Geschichte über ein Komplott rund um den Besuch von US-Präsident J.F. Kennedy ("Ich bin ein Berliner"). Alles in flottem Tempo, mit doppelten Böden und Doppelgängern, Spionen und Gegenspionen, finsteren Sowjets und verschlagenen US-Amerikanern, verrückten Wissenschaftlern, tickenden Uhren und einem actionreichen Finale. Schön sind die gut recherchierten Details, etwa wenn in Ostberlin Plakate von Staudte-Filmen zu sehen sind.
Gehobener Schund, und das meine ich ganz freundlich, und Unterhaltung ähnlich etlicher Hollywood-Abenteuerkino-Franchises. Kritiker werden sagen, eher restaurativ, politisch staubbeladen und ohne postmoderne Meta-Spielereien für die Genre-Gewieften, aber als spannende, alternative Was-wäre-wenn-Historienmalerei sehr unterhaltsam. Mir taugt's.
(José-Louis Bocquet, Jean-Luc Fromental, Antoine Aubin. Die Abenteuer von Blake und Mortimer, Bd. 26: Acht Stunden in Berlin. Hamburg, Carlsen Verlag, 2023.)