Sonntag, 14. August 2022
Habe jetzt eine Wildtierkamera vor dem Haus installiert, dort wo eine langgezogene Straße entlangführt. Nachts dringen von dort immer wieder merkwürdige Geräusche herein, ein Summen und dumpfes Tappen. Lange rührte sich nichts, jetzt aber löste der Bewegungssensor aus und aktivierte die Nachtsichtfunktion. Erstaunlich - auf der Straße hockt ein großes Tier. Ein sechsbeiniger Hund? Ein Nachtmahr? Ein xenomorphes Gebilde? Gibt es derart große Insekten oder hat sich etwa einer der verrückten Wissenschaftler hier auf der Forschungsinsel durch ein fehlgeleitetes Experiment in eine Fliege verwandelt?
Wo Quecksilber durch Flüsse treibt und alles abtötet, wo Atomkraftwerke von Raketen beschossen werden, darf man sich über Veränderungen in der Natur nicht wundern. Ladies and Gentemen, es folgen die Mutantenjahre. Man geht dann nachts nicht mehr raus, um Waschbären zu vertreiben, sondern tausendfüssige Riesenasseln und fußballgroße Schaben. Nachtspaziergänge bis zum Elbufer, am Wasserfilterwerk vorbei nur noch mit Riesenkescher und Elektroschockgerät. Oder mit dem fliegenartigen Hund an der Leine, der mit dumpfen Tapsen über die Straße geht.
Bei der Hitze kleben neuerdings Geckos an meinen Fensterscheiben zum Wasser hin. Exotische Pflanzen ranken sich am Haus hinauf, ein Leben wie in einer vergessenen Orangerie, verwehte Musik, eine müde Katze, und dann gar nichts mehr, nur noch in eine neue Aggregatform schmelzen.
>>> Geräusch des Tages: The Cramps, Human Fly
Montag, 8. August 2022
Werkstatttagebuch III/22, Sek. 37. Für die in vivo-Testphase habe ich nun seit einigen Tagen die Traummaschine neben meinem Bett platziert. Auch wenn meine Nächte meistens schlaf- und traumlos verlaufen, gibt es hie und da REM-Phasen mit besonders gesteigerter Traumaktivität, die ich mit meiner Maschine aufzeichnen konnte. Es sind meistens etwas undeutliche, erinnerungslose Bilder wie Tränen im Regen, die am Morgen für die Menschheit verloren sind. Für immer.
Nun aber bin ich in der Lage, diese Daten aufzuzeichnen, von Fehlspuren (Magengrimmen, äußere Einflüsse, Zufallsindikatoren, elektromagnetische Spitzen durch vorbeifahrende Autos) zu bereinigen und auszuwerten. Zum Ende bleiben endlose Ströme kodierter Zeichenkolonnen, für die man früher Dutzende Linguisten und Code-Knacker hätte beschäftigen müssen, um sie zu dechiffrieren.
Heute gibt es dafür zum Glück Maschinen mit künstlicher Intelligenz. Diese wurden gefüttert und antrainiert mit Milliarden von Träumen anderer Menschen, um einen Korpus von dem zu schaffen, was man gemeinhin unter "Traum" versteht. Die KI hat leider kein Bewusstsein, folglich auch kein Un-bewusstsein kann daher auch nachts nicht abschalten und vor sich hinträumen. (Und auch keine "elektrische Schäfchen" zählen, wie es im Volksmund immer heißt.)
Die KI (hier handelt es sich um eine Maschine namens "Midjourney") kann die von mir und meiner Traummaschine aufgezeichneten Daten aber interpretieren und analog Trilliarden von anderen Träumen nachmalen. Sich ausmalen. Übersetzen. Wie man es auch immer bezeichnen möchte. Jetzt allerdings habe ich Angst bekommen. Den offensichtlich ist die Maschine in der Lage, in meinen Kopf zu schauen. Und zwar schmerzhafter und genauer, als ich es selbst zu tun vermag. Ich fürchte, die Maschine wohnt dort bereits. Und so wie ein Staubsaugerroboter exakte Karten von den von ihm befahrenen Wohnungen und vor allem vom dort gefundenen Müll aufzeichnet und an eine andere Maschine funkt, so hat die Traummaschine auch meine Hirnwindungen und den Müll darin, die sogenannte Plaque des Denkens, kartografiert. Da sitzen offenbar deformierte Menschen auf derangierten Stühlen, tanzen viktorianische Roboter vor Grosz-teskem Publikum, singen Affenmädchen verzerrt aus trüben Gläsern.
Es ist also tatsächlich sinnvoll, dass man meist schläft, wenn man träumt. Dass man Traumgebilde und Phantasmagorien sich selbst im Schlaf überlässt, im kindlichen Vertrauen darauf, dass der Spuk am nächsten Morgen vorbei ist und alles in alltagskodierte Formen und Gebärden zurückgefasst ist. Damit man den gemeinsanen Traum weiterträumen kann. Und die Schläuche und Sensoren und die trüben Gläser, in denen wir alle stecken, nicht bemerkt.
Mittwoch, 3. August 2022
Wichtig ist ja immer auch der Feldversuch. Der Moment, wenn das Kunstwerk wie eine Raupe aus dem Kokon der Werkstatt schlüpft und die Umwelt erkundet. In diesem Fall war dies im Rahmen einer kulturintervenistischen Aktion ein Stück Brachland inmitten der Großstadt, Oase zwar nicht für Insekten (gab kaum welche), aber Gedanken. Wir sehen hier in einer ortsspezifischen Installation den Prototypen (daher noch nicht ausbalanciert, was natürlich die ersten Traumergebnisse verfälschen wird) mit seiner Trichterfalle, in der die von den Röhren gebündelten Erinnerungsstrahlen (ein zuvor genutztes Brachland eigent sich daher gut für erste Experimente) gesammelt werden. Eine Art Field recording für Spiritisten.
Sollten die Ergebnisse befriedigend ausfallen (ich habe mich noch nicht getraut, den Fangkasten zu öffnen, hielt aber bereits ein Stethoskop daran), werde ich die Installation auf einem Friedhof erneut aufstellen. Im Ergebnis sollten die dort viel stärker vorhandenen Erinnerungsstrahlen ("memory beams") zu einer größeren Ausbeute führen. Dann folgt auch der Test der Wiedergabefähigkeit, bei der ein exakt ausgependelter, an einem menschlichen Haar befestigter spitzer Bleistift über einem Blatt Papier schwingen wird und Bilder skizziert, die als "Träume der Toten" zu betrachten sind.
In Traummaschine III werden wiederum kleine Lautsprecher in die Röhren platziert werden, die aus dem Gerät heraus (ex ovo) den Gesang ausgestorbener Vogelarten in das von Nutzen und Gebrauch befreite Brachland abstrahlen werden. Eine Reflektion über Vergänglichkeit im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit am Ende des Erdzeitalters, das wir kannten.
Sonntag, 31. Juli 2022
Nachdem ich neulich noch einmal Ken Russells Gothic mit einigem Vergnügen gesehen habe, eine Arbeit über die Erschaffung eines Schöpfers aus dem Geist traum- und albtraumhafter Abgründe, dachte ich weiter nach über das Leben als Créateur, wie man am Genfer See, also dort, wo der Film spielt, vielleicht sagt, und beschloss, eine weitere Traummaschine zu bauen.
Diese hier erinnert ein wenig an die Intonarumori -Krachmaschinen der Futuristen, wie man sie hier betrachten kann. Und in der Tat ist diese Maschine gedacht, um Gedanken und Träume mit Klängen zu beinflussen. Das Funktionsprinzip von Twitter brachte mich auf die Idee, vielstimmige Geräusche in einen Echoraum abzustrahlen, eine ortsspezifische Klanginstallation, deren Energie einen Gedanken denken lassen soll.
Wenn man die Regler auf Elf stellt, geht auch ordentlich was ab. Es bildet sich eine Art brodelnde Pizzaoberhaut auf der Hirnrinde, ein Fusionsgenerator der Klänge, den ich wie ein Tesla der Moderne nur mühsam im Zaum halten kann. Ist aber alles sicher, und von TÜV Süd geprüft. Denke ich jedenfalls, aber das kann sich, je nach in meine Maschine induzierten Klang kurvenartig verändern - mal Sinus, mal Rechteck, mal Sägezahn, ihr kennt das Muster. Rhythmisch pumpende Lavageysire, Assoziationsbilder, Rorschach-Muster, aus denen sich die Zukunft lesen lässt. Die sieht, wie man weiß, für uns alle auch nicht gut aus.
Sonntag, 24. Juli 2022
Man nennt sie auch die documenta des kleinen Mannes, aber das ist natürlich kein Wettbewerb. Da mich bislang nichts von dem, was ich von der aktuellen documenta gesehen oder gehört habe, irgendwie neugierig gemacht hat, nutzte ich lieber das Neuro-Ticket für einen Ausflug ins nicht allzu weit entfernte Büdelsdorf, gleich bei Rendsburg, auch bekannt als die Stadt am Nord-Ostsee-Kanal.
Bis zum 9.10. gibt es hier die Nordart zu sehen, ein Kunstfestival auf dem Gelände der ehemaligen Eisengießerei Carlhütte, das mittlerweile zum 23. Mal stattfindet. 200 internationale Künstler und Künstlerinne zeigen dort ihre Werke, zu einem großen Teil Skulpturen, die im weitläufigen Park und in der Carlshütte selber verteilt sind. Einer der Schwerpunkte dieses Jahr ist Kunst aus China und der Mongolei, die in der alten Wagenremise gezeigt wird. Ein weiterer Länderfokus liegt auf Polen.
Von Hamburg aus ist man mit dem Regionalzug und einer kurzen Busfahrt in anderthalb Stunden vor Ort, eine beschauliche Fahrt durchs Norddeutsche, hingetupften Einfamilienhaussiedlungen und Felderwirtschaft. Am Ende ist der Nord-Ostsee-Kanal erreicht, die Hochbrücke grüßt, dann auch Industriekultur, Eisen, Rost und aktuelle Kunst. Vieles von dem, was da auf einem weitläufigen Gelände gezeigt wird, hat nicht den Anspruch als "Weltkunst" wie auf der documenta durchzugehen. Und doch gibt es mitunter faszinierende Positionen, gewitzte Einfälle und wuchtige Metalskulpturen in allen Windungen und Deformationen zu bewundern.
Im polnischen Pavillion gibt es ein paar plakative, pop-motivige Sachen, die Sektionen mit chinesischer und mongolischer Kunst spreizen sich auf zwischen Kitsch süß-sauer, starken Farben und erdiger Wucht aus Material. Darunter eine übergroße Venus und schruppige Objekte, die sich mit den schrundigen Wänden und zerrissenen Nischen der alten Werkstätte verbinden. Eine zwischen rostigen Platten, Eisenträgern und alter Maschinerie aufgebaute Bühne gibt es auch. Ich habe jeden Moment die Einstürzenden Neubauten für ein kleines Impromptu-Konzert erwartet.
Die Installation im alten Leitstand hat mich so beeindruckt, dass ich mir völlig versunken den Namen des oder der Künstler:in nicht gemerkt habe. Eine Szenerie wie aus Twin Peaks: The Return oder Fire Walk With Me genommen zeigt die desolate Bude mit wehendem Vorhang und Projektionen in den Fenstern, die hilflose Gestalten zeigen, die offenbar um Hilfe rufen. Ab und zu ist Feuerschein zu sehen, und ich warte eine lange Zeit, ob jemand wie ein rußgeschwärzter Woodsman das Gedicht "This is the water and this is the well" zitiert. Aber so viel Twin Peaks ist dann doch nicht.
(Nachtrag und Hinweis aus den Kommentaren: Die Installation stammt von Pat van Boeckel. Danke!)
Zu Essen gibt es auf dem Gelände auch ein paar Kleinigkeiten, ausreichend Toiletten und vor allem Sitzgelegenheiten sowohl im Park als auch in der Eisengießerei. Einfach, um die Kunst anzuschauen oder um die alten Knochen auszuruhen. Sehr löblich!
>>> Webseite der Nordart
>>> Der Youtube-Kanal der Nordart mit Ausstellungsrundgängen und weiteren Infos
Samstag, 16. Juli 2022
In meinen bereits länger dauerndem Hiatus blieb ich fingerrege und habe eine Maschine gebaut, die meine Träume verarbeiten kann. Die komplexe Konstruktion (Details erspare ich an dieser Stelle, auch aus Sicherheitsgründen, da die Konstruktion nicht in allen Teilen die gängigen DIN-Normen erfüllt und für Laien, die ihr seid, gewisse Gefahren beim unsachgemäßen Betrieb bereithält) passt von den Dimensionen her so eben noch in den Musiksalon und summt und kröchelt dort so vor sich hin.
Auf dem Bild sehen wir das sogenannte Traumnetz auf der rechten Seite, den eigentlichen Reaktor links (nur von geschultem Personal zu bedienen!) und einem Projektionskondensator im Vordergrund. Man muss sich nur ins Traumnetz stellen und in eine meditative Trance begeben, vielleicht ein Lied singen oder tiefe Töne auf Herzfrequenz. Die Traumwellen werden vom Reaktor verarbeitet (Transmutation) und zum Projektionskondensator geleitet, der die Träume für den gewöhnlichen Betrachter sichtbar macht. Ganz simpel eigentlich, wenn man mal darüber nachdenkt.
Ich träume viel von Fischen, wie sie durch dunkle Gewässer treiben, durch die Kiemen atmen, ins Unergründliche tauchen oder aufblubbern und Blasen schlagen, Ideenfragmente seufzen oder Wünsche erfüllen oder das Leuchten anfangen in den Schwärzen der Tiefsee. Wenn man vom Tage aufgewühlt, jeder Kopf seine eigene Sargassosee, in so einem Maschinenraum zur Ruhe kommt, Sphärenklänge und unentzifferbares Gewisper, sich verfängt im Traumnetz, Ideen nachgreift, Nervenspannung, dann kann an sehen, wie sich die Fäden aufladen und anfangen zu leuchten. Ganz hübsch eigentlich, wie eine Rauminstallation mit Medusenleuchte und Schleiertänzerinnen. Ein illuminiertes Séancen-Hinterzimmer.
Dienstag, 12. Juli 2022
(Doom von Merlin Reichart. Hamburgensie, möglicherweise prophetisch.)
(Alien Skin Tolles Fungusprojekt, Name des Künstlers entfallen.)
Die jährliche Diplomausstellung, neuerdings Graduate Show genannt, an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HFBK) ist in Zwischen-Corona-Zeiten wieder etwas barrierefreier zu erreichen, kein Check-in, keine langen Schlangen, zum Glück aber doch viele mit Maske. Vorbildlich. Zu sehen gibt es wie immer etwas aus allen Regalebenen. Manches, wie das pilzige Hautprojekt in der Eingangshalle, schon spektakulär. Angefangen von der amorphen Unterkonstruktion hin zu den ledrigen, außerweltlichen Häuten ein sehr faszinierendes Projekt.
(Changing of the Guard. Der Künstler dreht Teller.)
Oft spielt die Musik aber auch einfach auf den Gängen, wo achtlos vollgekritzelte Kreidetafeln geheime Botschaften offenbaren oder Zusammengefegtes zu skulpturalen Interventionsinstallationen zusammenfindet. Das Haus atmet Kunst, und die bohrt sich wie ein extraterrestrischer funguider Finger durch achtlos Weggeworfenes, lockt und winkt und will nach Hause telefonieren.
(Tafelbild. Sieger im Cy-Twombly-Ähnlichkeitswettbewerb)
Manches steht offenbar im Zeichen der diesjährigen documenta, wo ja Gruppen zusammenfinden und abhängen, reden und abhängen und reden sollen. (Das ist jetzt nur grob wiedergegeben.) Man merkt, wie sich eine Funkstrecke bildet zwischen den einzelnen Kulturinstitutionen, und da gibt es auch gar nichts zu lachen. Freude darf es trotzdem machen.
(Gruß an die documenta. Einfach gesellig abhängen.)
(Gruß an die documenta. Einfach gechillt abhängen.)
In vielen Ateliers finden sich weitere Exponate für mein seit Jahren gepflegtes Projekt Blumen & Waschbecken (streng genommen: Blumen & Flaschen & Waschbecken), weshalb ich gerne am Tag nach den ganzen Feiern und Parties im Gebäude zum Sondieren gehe. Nicht alles habe ich gesehen, nicht alles fand ich überzeugend, aber wie fast immer gab es doch ein paar interessante Positionen (dieses Jahr vor allem Bildhauerei).
Immer weitermachen!
(Blumen & Waschbecken. Mein eigenes wegweisendes Projekt.)