Dienstag, 17. August 2021


Betrachtungen aus dem Rheinraum



Neulich war ich im Rheinland, hauptsächlich - when in Rheinland, do as the Rheinländer do - um Gespräche zu führen. Der offizielle Teil war schnell und gut organisiert zu Ende, das Ergebnis ebenfalls erfreulich rasch gefaßt, dann hat man den Kopf frei und reduziertes Gewicht. Bei Freunden sehr entspannt gegessen, geplaudert, zahlreiche Details um Haus und Hof bewundert und den besten Schlaf seit Jahren gehabt: im ehemaligen Dienstbotenzimmer. Fantastisch, fünf Sterne. (Sofort den Plan gefaßt, mir in meiner Wohnung ein ebensolches Zimmer einzurichten, für wenn mal Dienstboten kommen schwer Schlaf zu finden ist.)

Düsseldorf bleibt vertracktes Gelände. Es gelingt mir seit Jahren nicht mehr, dort Ausstellungen zu besuchen. Noch immer denke ich wehmütig an die Jean-Tinguely-Ausstellung zurück, die ich wegen irgendwas verpaßte. Nun war es Schlingensief, die von Besucherschlangen und Querdenkerdemos umwunden war wie einst Dornröschens Schloß. Oder besser: wie der unerklimmbare Felsen der braven Lorelei, die dann augenzwinkernd vorbeifuhr. Dafür erneut entspannt gegessen.

Besichtigungen dann auf der kurzen Heimatrunde, überall Flutberichte, Zukunftsgedanken, Impfstatusvergleich. Auf der Rückfahrt wieder zähes Waggongekoppel in Hamm, Westf. Die Rücklichter von Anschlußzügen im geisterhaften Hannover. Die Einsamkeit nächtlicher Bahnsteige, und ein Taxifahrer, der außer "Moin" nichts sagt. Wieder daheim.


 


Donnerstag, 12. August 2021


Drehbühne



Ich lag neulich auf dem Sofa, auf der Suche nach dem besten Gedanken, da fiel mir beim Blick in die Weite des Raums mit einem Male auf, daß mir wohl eine Drehbühne fehlt. neue Sichtweisen auf Knopfdruck! Der ganze Salon auf einer Drehbühne, und wenn einem nach einiger Zeit der Anblick fad wird, dreht man ihn einfach (Steuerung per App, bin modern), eine Vierteldrehung nach links oder rechts.

Patent ist eingereicht.

Auf dieser Drehbühne könnte eine engagierte Hermetische-Café-Tanztroupe in einer strengen Choreographie zu den Klängen von M.I.A.s Bamboo Banga langsam vor- und zurückschreiten. Wiegen. Frau Kerner allerdings muß mit sich selber tanzen. Das ist nicht schlimm, das mache ich schon lange so. Meist an lauen Sommerabenden auf meiner imaginären Sommerterrasse zu hervorragender Musik. Neulich aber war ich in einer Großstadt am Rhein und geriet zufällig in eine quengelnde Quertanzgruppe. Außer unrhythmischem Getrommel und Getröte kam da: nichts. Denen hätte eine, nur meine MEINUNG, allerdings sehr schnelle, Drehbühne sehr gut getan. "Raus aus dem Hamsterrad, rauf auf die Drehbühne" lautet das Motto, und als ich später in Wuppertal war, habe ich mir von einem alteingesessenen metallverarbeitenden Betrieb gleich mal was basteln lassen. Gerade schraube ich in meinem Salon zwei kleine Pfeiler in Boden und Decke, da wird das dann eingerastet.

Wir lernen: Von der Sofaidee zur Umsetzung in nur 400 Km Bahnfahrt. Jetzt geht's aber rund! sagte man früher, wenn die Stimmung in die ein oder andere Richtung stieg. Manchmal muß man im Leben einfach nur die Laufrichtung ändern.


 


Montag, 9. August 2021


Insektarium


Insekt. 2021. Tinte, Wasserfarbe, Papier. 1000,- Mark

Oft werde ich gefragt, Herr Kid, wie können Sie mit so wenigen, pointierten Strichen so realistisch malen? Meist antworte ich, daß man dafür die großen Drei bräuchte: Üben, üben, üben! Als Illustrator für Insekten (und Spinnentiere) im naturhistorischen Museum muß man einen Blick haben für die art- und gattungsrelevanten Feinheiten und besonderen Merkmale. Die arbeitet man - ohne unwissenschaftliche Übertreibung! - heraus und bringt ein wenig Charakter in den Ausdruck. Schon ist die Illusion einer überzeugend wirklichkeitsnahen, was gerne "lebensecht" gennant wird, Darstellung gelungen. Eine Übertragung.


Die Spinne hat einen Witz erzählt. 2021. Tinte, Wasserfarbe, Papier. 1000,- Mark

Doch mit naturalistischer Präzision allein ist es nicht getan. Eine solche Abbildung kann jede Fotografie besser. Einem guten Künstler indes gelingt es, das Objekt seines Bildes zum Leben zu erwecken, ohne dabei einzelne Federstriche zu übertreiben oder Tiere und Dinge zu stark zu anthropomorphisieren. Ebenso wie mein stilprägendes, kubistisches Gemälde "Nackte Libelle, eine Treppe herabsteigend" (hier nicht abgebildet) vermeidet meine kleine Zeichnung "Die Spinne hat einen Witz erzählt" solche karikaturhaften Überspitzungen und hält sich an von der Forschung unterstützte Überlieferungen aus dem Leben der Tiere. (Auch wenn über den Humor der Insektenwelt, anders als zum Beispiel über das Liebesleben dieser Tiere, noch wenig geforscht wurde.)

Mein Motto ist: Es liegt genug Zauber in der Natur, der von Talent reich beschenkte Künstler muß gar nicht viel dazudichten.


 


Mittwoch, 4. August 2021


Der Morgenbericht

Und nun zum Sport: Wenn ich eines aus dieser Olympiade (und ja, das ist nur der Abstand zwischen zwei dieser Spieletreffen, brav, brav) mitnehme, dann die Wendung: "Ringerin Rotter-Focken". Schon morgens vor dem Spiegel übe ich das ein. "Ringerin Rotter-Focken", mal mit rollendem R oder auch zwei, mal sanft und beinahe zärtlich. Ich höre (mit dem inneren Ohr), wie die Wendung in den Redaktionen landauf, landab hin- und hergeworfen wird wie ein Softball (oder Beach-Handball von Journalisten in Verbandskleidung). "Ringerin Rotter-Focken". Zehn Mal hintereinander sagen.



Ich persönlich bin ja eher der wortkarge Typ, weshalb ich derzeit wieder mit meinem alten Studentenjob unterwegs bin: Pantomime in der Fußgängerzone. Wenn ich nach etlichen Klimmzügen an imaginären Mauern und dem Betasten von Glasscheiben nach Hause komme, fühle ich mich frei wie ein Schmetterling, der gerade in eine träumende Wolke hustet. Ein Schmetterling, das haben wir von Dr. Hannibal Lecter gelernt, steht für Verwandlung. Ich muß derweil für meine weitere akademische Verwandlung einen Doktorvater oder -mutter finden, die mein Promotionsvorhaben "Neurotransmitting Processes and Making Friends in a Post-Digital-World" unterstützen. Post-Digital wird das nächste große Ding, mark my words.

Heute konnte ich nicht akademisch tätig sein, weil die junge handwerklich geprägte Frau mit den neuen Rauchmeldern kam. (Noch digital, also jetzt bereits veraltet.) Wir plauderten über Datenschutz und Designfragen, während ich die Leiter hielt (die Wände des Leuchtturms sind enorm hoch) und ihr beim Über-Kopf-arbeiten zusah. Anschließend schaute sie sich "unbemerkt" um, ich versicherte ihr schnell, im Grunde ein Freund des minimalistischen skandinavischen Designs zu sein, es nur nicht so ausleben zu können. Sie sicherte mir ihr Verständis zu. Sie besäße auch nur "schöne Dinge", und die schmeiße man ja nicht einfach weg. Ich war erleichtert, fügte aber sicherheitshalber noch hinzu, daß ich im Filmgeschäft sei, Requisiten brauche und derzeit ein neues Projekt anleiern würde. Arbeitstitel "Ringerin Rotter-Focken vs. Sharknado". Sie sagte, das glaube sie gern und wünschte einen schönen Tag. Ich glaube, ich gebe ihr dann eine Freikarte.


 


Samstag, 31. Juli 2021


Seemannsträume


Laurie J. Proud, "Boxing Girls"

Bei Laurie J. Proud dachte ich immer, das sei eine Französin, die zu traurigen Akkordeonklängen Hafenbilder aus dem Marseille der 30er-Jahre malt. Mit einem interessanten Schuß Motel-Flair der 50er. Neo Rauch trifft David Lynch, könnte man es umschreiben. Jetzt ist es aber so, daß alles ganz anders ist. Laurie J. Proud ist ein Engländer, der mittlerweile im beschaulichen Dorset lebt, beruflich Werbe-Animationen macht (z.B. einen auch hierzulande bekannten Hustenmittelspot), mir aber wegen seiner retroatmosphärischen Bilder gefällt. Da gibt es Boxer und Boxerinnen, Bar- und Hinterzimmerdamen, düster umwölkte, rauchende Matrosinnen, Möchtegernschauspieler und Würfelspielbetrüger, Schnacker, Halbnackte und Halbweltganoven.

Condensed Night

Es sind kleine Geschichten und gemalte Chansons (wie die auf Panels verteilten Bildergeschichten in seinem Buch Peepholes) aus einer melancholischen, neu erfundenen Vergangenheit. Der kurze Animationsfilm Condensed Night ("a boy lost his ball") wirkt dabei wie eine vergessene Albtraum-Episode aus Lynchs Eraserhead und bringt so manche verstörende Nachbarswelt auf den Punkt. Bei manchen ist der Regenbogen halt grau. Oder geringelt.

>>> Webseite von Laurie J. Proud
>>> Instagram


 


Freitag, 30. Juli 2021


Kultursplitter

In meinem Berlin-Roman Die Oma hat mir nüscht vermacht erzähle ich vom kulturgemanageten Leben einer Brühwurst-im-Glas-Bohème (allesamt Abbrecher der Hamburger Schule) im zuzugigen Neukölln um die Jahrtausendwende. Mit "Witz und Verve" (Stadtmagazin) erzählt, entspinnt sich eine anekdotisch aufgehübschte Geschichte von großen Plänen und kleinen Erfolgen, Verliebtheiten und Entliebungen, verrauchten Bars und klebrigen Tresen, dem Ringen um Förderanträge und Stütze, Lebensweisheiten und allerlei Unsinn. LiloLotteLisa-Film hat bereits die Rechte angefragt für den TV-Freitagabend, dann ist hier endlich Schluß mit Dosenfisch und Brot aus Plastikbeuteln.


"Dots'n'Rust" - Hommage an Yayoi Kusama. Metall, Rost, Löcher. 2022. 1000,- Mark

Lange habe ich für ein Unternehmen gearbeitet, das sich "Digitale Transformation" auf die Fahne geschrieben hatte, morgens dröhnte statt der Fabriksirene David Bowies "Ch-ch-changes" aus dem Mitteilungslautsprecher und dann wurde nach und nach alles auf den Kopf gestellt, Tisch auf Stuhl, altes Denken, neues Denken usw. oder auch vorwärts gehen, rückwärts sprechen wie bei David Lynch. Interessant wird es jetzt, wenn man dieselben Prozesse nun an Behörden und öffentlichen Einrichtungen erlebt, weil man dabei hautnah miterleben kann, daß nicht alle Rezeptmischungen beliebig in jeden Topf gerührt werden können, wenn ich dieses schiefe Bild gebrauchen darf. Auch ist der Wissensstand sehr unterschiedlich. Irgendwo erwähnte ich beiläufig das Thema Datenschutz, da wurde sehr gelacht und jovial "och jo" gesagt - und das zurecht! Man brauchte meinen Rat gar nicht, denn es dauerte tatsächlich nur ein Jahr, da war auch hier der Newsletter DSGVO-konform. Muß ja keine Eile sein.

Julian Nida-Rümelin, die Älteren kennen ihn noch als Kulturstaatsminister, sagte ebenfalls zurecht zum Thema Kultur im Lockdown, es bringe nichts, das "Haus" (er meinte ein Museum) einfach 1:1 ins Internet zu spiegeln. Man kennt das ja vom Film (habe ich jetzt gesagt): Gute Trailer - schlechte Trailer. Die einen wecken die Neugier, reißen was an, machen Lust aufs Kino, die anderen erählen brav den Inhalt nach, so daß man gleich zuhause bleiben kann. Selbst die Koberer auf der Hamburger Reeperbahn merken, daß man mit dem alten "Komm'se ran, komm'se rein, das erste Bier kost' nix" kaum noch jemanden locken kann. Neue Medien brauchen neue Konzepte.

Andererseits fühlte ich mich jüngst ausstellungshalber nach Berlin gelockt, stieß dann aber auf die neuen Konzepte "Zeitfenster-Tickets" und, schlimmer noch, "ausverkauft". Da muß man dann zuhause bleiben. (Ich bin ja sehr gut im Retrospektive-verpassen, schmerzlich fällt mir da immer die große Tinguely-Ausstellung vor ein paar Jahren in Düsseldorf ein.) Kein Bällebad mit Yayoi Kusama also, ich könnte aber bei mir daheim alles mit bunten Klebepunkten vollstickern, für den klebrigen Tresen und vor allem fürs Gefühl. Das ist digital noch nicht erfaßt. Wird noch transfomiert.

Tentakel | von kid37 um 14:03h | 3 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Montag, 26. Juli 2021


Mobilität

Während mich Bekannte aus New York (das ist eine große Stadt in den USA) auf Instagram mit einem gewissen Überschwung sportlich düpieren (gut, daß ich nicht dabei war und mich womöglich zum Wettbewerb gedrängt gefühlt hätte), denke ich erneut über das Thema "Mobilität" nach.

Ältere Leser Wer hier schon länger mitliest, erinnert sich vielleicht an meine fast erotische, dabei aber unschuldige Begeisterung für Aufsitzrasenmäher. Nun sehe ich, daß es ein solches Gefährt auch bereits einmal in einer Corona-konformen Version gab. Der klimatisierte Wonder-Boy X-100 sichert Fahrer oder Fahrerin vor viralen Kontakten und bietet zugleich ungestörte Rundumsicht auf Rasen, rumlungernde Partner und eben Scheunenpartys und Trapezturnerinnen.

Wenn der Rasen dann schön getrimmt ist, steht der Tiki-Party nichts im Wege. Angemessene, sommerlich langsame Bewegungen, kein Sehnenreißen oder Zerren und dabei natürlich nur Apfelessig statt Alkohol, um für hochfliegende Träume fit zu beiben.