Montag, 19. Februar 2018


Gesammeltes

Vor einiger Zeit war ich mal in einem Haushalt, in dem ich vor langer Zeit öfter verkehrte. Tatsächlich aber war das, was von mir dort noch zu finden war, ein verwaister, einsamer Kaffeelöffel eines kompletten Bestecks, das ich dort einmal angeschafft hatte. So schwindet alles. Stück für Stück.



Gefunden, verloren, wiedergefunden. Alte Dinge, alte Rollen, alte Bühnenstücke. Besser man hebt es auf und ordnet alles frisch an. Karten auf den Tisch, Hose runter, Butter bei die Fische. (Wohl dem, der dazu noch das Besteck hat.)

Das eine weg, dafür findet sich neues. Man stelle sich vor, daß sich das Geheimnis um meinen verschollenen älteren Bruder gelöst hat. Es gibt keinen Zweifel, es ist wie mit nach der Geburt voneinander getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die sich nach 30 Jahren wiedertreffen und feststellen, daß ihre Frauen beide Maria heißen, sie beide ein Pferd besitzen und sogar exakt den gleichen Oldtimer. Oder wie in diesem Fall exakt das gleiche Brillengestell. Exakt.

Auch sonst, ist die genealogische Herkunft unverkennbar. Mark Dion ist, sagen wir mal, Sammler. Und Künstler. Aber eben als Sammler. O Bruder, mein Bruder! Hebt alles auf. Ich vermute, bei ihm befindet sich das restliche Besteck.

Am Wochenende zeigt sich plötzlich Sonne, und alle Menschen stellen ihre Sammlungen oder Gedanken ins Licht. Auch manch Halbschattiges kommt dabei hervor. Das sehe ich auch beim Spaziergang durch Hamburgs berüchtigte Billstraße. Dort, wo man sein Fahrrad finden kann im Fall der Fälle. Und andere Sammlungen sieht: Der eine dort stapelt Kühlschränke, der andere Waschmaschinen. Dazwischen sitzt einer, der bietet Trimmräder an. Ich versuche es auch mit Fitness und schaue einfach, wie weit ich komme. Anderthalb Stunden dauert die Runde, danach fallen die Stufen schon schwer. Das war schon mal besser, aber jetzt im Winter will ich nachsichtig mit mir sein. Ich muß mich vielleicht auch erstmal sammeln.


 


Donnerstag, 15. Februar 2018


Schatten der Vergangenheit



Letztes Wochenende war das Wetter plötzlich so usselig, daß ich den Akademierundgang an der HfbK geschwänzt habe. So weiß ich nicht, was die Damen und Herren Studenten derzeit so treiben von meinen teuren Steuergeldern. Ganz väterlich wagte ich stattdessen einfach das Prinzip "lange Leine" und "Vertrauen", denn junge Menschen müssen ja auch flügge werden, und der ein oder andere Nasenstupser gehört dabei dazu.

Kuschelige Zeit also, mich angesichts des nebligen Wetters am imaginären Kamin meinen nebligen Forschungen hinzugeben und ein wenig in den Bücherstapeln zu blättern. Da ist dieses vergnügliche Buch von Stefan Bechtel und Laurence Roy Stains: Through A Glass Darkly. Da geht es um eine exzentrische pasttime von Sherlock-Holmes-Erfinder Sir Arthur Conan Doyle, der modern genug war, für die aktuelle Mode der Viktorianer, dem Spiritualismus, den oberen Hemdknopf zu lösen und sich mit detektivischem Interesse allerlei Spökenkiekerei und technisch getriebenen Scharlatanerien de jour hinzugeben. Elfenfotografie (klassisch mit "ph") und eben allerlei Gedöns mit Seancen und Ektoplasma-Erbrechen. Die wabernden Geister, die sich bei der Lektüre über meinem graubehaarten Schädel herausbilden, kichern sich eins und wackeln begeistert mit ihren dürren Fingern. Ältere Menschen erinnern sich noch an dieses japanische "Akte X" aus den 70er-Jahren - S.R.I.. Da gab es eine Folge mit grünem Ektoplasma, das bedrohlich durch Türritzen kroch und blutjunge Zuschauer derart traumatisierte, daß aus ihnen später Blogger wurden.

Ähnlich vernüglich ist Rebecca Solnits A Field Guide to Getting Lost. Solnit ist gerade mit Büchern über "Mansplaining" in vieler Munde, hier spaziert sie in kunstgeschichtlicher und auch biografischer Weltgeschichte herum, erklärt das Prinzip der Perspektive in der Malerei und das Sehnsuchtsblau und ist dann bald wieder bei persönlichen Erinnerungen. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, worum es in dem Buch wirklich geht, ich bin da ein wenig "lost" könnte man sagen. Ältere werden sich an H. D. Thoreau und seinen Essay übers Spazierengehen erinnern, nach dem einige Leser einst sogleich zum Zigarettenholen aufgebrochen und nie wieder aus dem Automaten zurückgekehrt sind. Ein Fall für das S.R.I. wohl. Solnit hat einige interessante Überlegungen an Bord, warum man beispielsweise in unbekannter Natur nicht immer gleich auch "verloren" ist, und wann und jenseits welchen Kartenrahmens dann eben doch.

Ein Herr Bateman hat über solche meine Forschungen einen hübschen Satz Kabinettkarten erstellt. Ältere erkennen das Studio "Reuter und Pokorny" aus der Wollzeile 34. Da haben wir uns früher alle photographieren lassen - für unsere Blogs - oder schnell noch im Ornat vor dem Opernball.

Ex Libris | von kid37 um 22:15h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 10. Februar 2018


An Acre Of Land



PJ Harvey hat ein neues Lied draußen. Eine gemeinsam mit dem Filmkomponisten Harry Escott für Dark River aufbereitete Version des Folksongs "An Acre Of Land". Schlicht, ohne Pathos, mit wehmütig umkleideter Nüchternheit, wie sie die Songs von Harvey in den letzten Jahren regelmäßig einkleidete. Hier kann man das hören.

Man muß den stillen Fleiß loben. Das Innehalten, Beharren. Die einfachen Dinge. Anders als diese Filmgeschichte: Da versuchen zwei Menschen, die tausende Kilometer von einander entfernt leben, weitere tausende Kilometer zu reisen, um sich zu treffen. Vielleicht möchte man da lieber gemeinsam mit Polly Jean einen englischen Acker mit dem Fingerhut umgraben. Ich atme mehrfach tief durch und bekomme die Anweisung, besser nur innerlich zu schwitzen. Oder noch besser gar nicht. Das sei alles kein Stress.

Zur Meditation mache ich jetzt in der Mittagspause am Hafen immer ein wenig Fieldrecording mit so einem kleinen Sonyding namens "Diane", schicke die Schnipsel linksrum und rechtsrum oder kopfübergestülpt durch den Computer, um damit später einmal - so der Plan - meine ebenso entstandenen Filmschnipsel zu unterlegen. Anders als Blätter und rostige Nägel, die ich sonst so gesammelt hätte, nehmen diese Klänge wenig Platz weg und kosten nur Zeit.

Die ist leider endlich. Der Filmkomponist Jóhann Jóhannson ist in Berlin gestorben, mit 48 Jahren. Das braucht man alles nicht.

Radau | von kid37 um 22:57h | 7 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Samstag, 3. Februar 2018


Dansen & Jansen



Oft werde ich nach dem Geheimnis meiner beachtlichen und bis ins hohe Alter bewahrten Fitness und Beweglichkeit gefragt. Nun, sage ich. Die Antwort ist ganz einfach: Tanzen hält jung! Morgens noch vor dem Wachwerden springe ich wie ein junges, leichtbekleidetes Reh zu Charles Mingus durch meine weitläufigen Räumlichkeiten (meist durch die lange Eingangshalle und den Spiegelsaal bis hinunter zum kleinen Jazzkeller, den ich mir unter Treppe eingerichtet habe), was ungefähr so aussieht wie in diesem kurzen Mitschnitt.

Dann bin ich matt. Zur Entpulsung höre ich dann elektronische Teppichklänge wie die beiden Alben von Steve Jansen, der mit seinem berühmteren Bruder früher mal in der Band Japan spielte. Japan gefielen mir nie richtig, Stichwort "prätentiös", aber diese Soloprojekte sind ganz interessant. Auf "Slope" gibt es sogar unerwartete Ausflüge in Sumpfbluesregionen, dazu eine Sammlung hübscher Papiermodelle alter analoger Synthesizer auf dem Klappcover. Also Kunst. "The Extinct Suite" wiederum hat Anklänge an Nils Pettar Molvaers "Khmer", und ich hoffe, für den Vergleich springt mir jetzt keiner ins Genick. Nur, um mal eine grobe Spur auszulegen.

Vom Titelstück gibt es auch ein atmosphärisches Video mit Animationen der Künstlerin Anna Malina, die überhaupt ganz bezauberndes Zeug aus Filmschnipseln und Dunkelkammerarbeiten macht und, wenn ich es richtig sehe, aus Wuppertal stammt. Das Video zum dronigen "The Extinct Suite" gibt es hier. Aber erst Hausarbeit erledigen, danach ist man zu tiefenentspannt und aller Schweiß getrocknet. (Tränen auch.)

Radau | von kid37 um 18:44h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Donnerstag, 1. Februar 2018


Baumgrau



Es sei der sonnenärmste Winter seit 50 Jahren. Der Guardian meldet weitere Dunkelheitsrekorde für Belgien und Nordfrankreich. Ich erhöhe die Dosis an Vitamin D und suche mein Netzteil für die Tageslichtlampe, die ich mir mal anschaffte, um zu sehen, was dann passiert. Es war aber zu dunkel in meiner Wohnung, das Netzteil bleibt vorerst verschollen. In Norddeutschland sei es zudem der nasseste Winter seit 30 Jahren und der mildeste dazu.

Heller scheint nur der Superblaublutmond, auch ein Wort, das dreimal schnell hintereinander gesprochen, zu Verwicklungen führt. Oder Verfinsterungen, so wie auf der anderen Erdhalbkugel. Gibt es alles erst 2037 wieder, man könnte also gemütlich zu Fuß bis nach, sagen wir, ganz woanders gehen. Mit einem Baumzweig im Schnabel.

Schön, wenn man zeitgleich das gleiche Buch liest und sich daraus zitieren kann. Leider fallen mir als Second-Hand-Typen zu vielen genannten Leuten nicht so viele Anekdoten aus erster Hand ein, da muß ich dann passen. Manchmal sage ich Sachen wie Maite Kelly sei die deutsche Adele, um auch mal etwas über Musik zu sagen. Zum Glück kann Humor international funktionieren. Von Adele wissen wir das ja schon. "The female Phil Collins". Haha.

Bei Adele regnet es auch. So nah kommen wir ihr also doch. Ich selbst singe ja in Autos gerne Lieder von Roland Kaiser. Deswegen werde ich selten mitgenommen. Dabei ist der ganz nett, glaube ich, und hat viel Selbstironie. Verstehen aber wenige.


 


Sonntag, 21. Januar 2018


Monstermusik


In meinem Debütroman Bring' Ziesen mit! (Hamburg: Faust & Auge Verlag, 2018) geht es bekanntlich um einen jungen, desorientierten Mann, der, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, Montag für Montag und nur zum Schein interessiert in eine Diskussionsgruppe mit dem Thema "Yucca oder Monstera?" geht.

Sich im Nebel da draußen nicht verirren, ist die quälende Aufgabe nun. Es sei der dunkelste Winter seit Zeiten, heißt es. Wer Heizung hat, bleibt zuhaus und gießt die Pflanzen. Ich sortiere die Schallplattenneueingänge der letzten Zeit (also: CD) und höre Charles Mingus, denn der beschwingt, wenn man die Wohnung z'samm räumen will. Heimlich zupfe ich Kontrabaß am Besenstil. 2017 machte ja vieles neu und weckte auch mein Interesse an Musik wieder. Noch mehr Jazz, dann Ligeti, Penderecki (ausgelöst durch Twin Peaks: The Return, Caspar Brötzmann, viel Gedrohne wie Bérangère Maximin (die bald im Bunker spielt), Ben Frost, Varèse, das großartige Ensemble Iris Electrum natürlich, das für mich alle Risse in Wien versöhnlich kittete, und die ganz interessante Calypso Valois mit ihrem noch interessanteren Video (Schauspiel 1.01, aber immerhin).

Immerhin nach sieben Jahren schon Anika gehört, mit dieser Mischung aus Joy Division, Nico und Portishead (hier live, und ja, man könnte über "Präsenz" reden). Vielleicht hätte es mir damals gar nicht gefallen.

Ich lese immer noch nicht wieder viel, aber schon viel mehr. Das Buch des Jahres (ebenfalls mit Verspätung) ist aber so oder so Viv Albertines fantastisches Clothes, Clothes, Clothes, Music, Music, Music, Boys, Boys, Boys. Lebenserinnerungen, die sie hier ganz nett zusammenfaßt. Ich habe viel gelacht, und manchmal auch ein bißchen geweint (self-pity!), denn ich habe mich in vielen Episoden wiedererkannt, und ich bin für viele Stellen sehr dankbar, weil sie sehr aufrichtig - oder wie der Klappentext sagt - oder auch "brutal ehrlich" geschildert sind, ohne Sensationsgeheische, immer mit Selbstironie, aber auch ohne falsche Scham. Schonungslos, heißt das, glaube ich.

Zuletzt habe ich ihr Soloalbum "Vermillion Border" gekauft. Sehr hübsch, sehr witzig, und es bringt das Kunststück fertig, auf einem Stück Jack Bruce gemeinsam mit Mick Jones ("The Clash") spielen zu lassen. "The Cut", das erste Album der Slits, war das zweite Punkalbum, das ich gekauft habe (das erste war "The Scream" von den Banshees), und viel habe ich ja nicht gekauft, wg. Geld. Ich bin also schon sehr lange Fan, länger als ihr ausrechnen könnt - und ich mag Ms Albertine jetzt sogar mehr als damals.
Mich übrigens auch.

>>> Geräusch des Tages: Viv Albertine, Live, 2011

Radau | von kid37 um 22:37h | 15 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 14. Januar 2018


Super

Ich habe jetzt auch den Supermarkt gewechselt. Der alte hat einen neuen Besitzer, erst bat man um ein wenig Geduld, nun aber sind es schon Monate mit halbvollen Regalen und halbabgelaufenen Sachen, dem Auslisten meiner Lieblingsprodukte und dem nur zögerlichen Adoptieren neuer. Tomatentreu ging ich dennoch immer wieder hin, weil ja alle in den neuen Supermarkt gehen, der in der Nähe vor einiger Zeit eröffnet hat. Einer muß hier Arbeitsplätze retten, dachte ich. Und dann: Wie schön leer es auf einmal immer war, kaum, daß man mal an der Kasse warten muß.


Aber immer häufiger bekam ich nicht alles, was ich wollte. Zuletzt hatten sie keine Spülbürsten, sodaß ich extra für eine simple Spülbürste ins Spülbürstenfachgeschäft hätte gehen müssen, um eine Spülbürste zu kaufen. Das war mir ein wenig zuviel der Aufmerksamkeit für so ein simples Küchenhilfsgerät. Spülbürste, Spülbürste, Spülbürste. Sagt das mal dreimal schnell hintereinander.

Der neue Supermarkt ist groß und sauber und hat sein Licht mittlerweile so eingestellt, daß man kein Augenflimmern mehr bekommt. Also ich. Mir ist es ein wenig zu groß und zu hell und zu schick, und die Spülbürsten, die sie immerhin haben, sind so schäbige aus buntem Kunststoffklump, die ich eigentlich nicht haben möchte, aber wann geht es im Leben da schon drum? Es gibt aber ganz viele biologisch abbaubare Speisen und Milchsorten und auch Gemüse und dies und das für den besonderen Abend.

Und eine nette Fachkraft mit freundlichen Wesen gibt es dort auch. Wir schauen uns manchmal so zwischen den Regalreihen an, zufällig, und sie lächelt dann. Ich lächle dann nicht, sondern denke, Mist, wieder vergessen, mich zu rasieren. Ich sehe aus wie ein zotteliger alter Mann, der hier seinen Einkaufswagen mit rotem Wein (den haben sie dort auch) durch die Gänge schiebt, andekoriert mit einem Brokkoli, diesem Supergemüse, als durchsichtigen Alibieinkauf. Die junge Kollegin sprach neulich auch schon quer über den Labortisch hinweg etwas von "verlottert", so mit Spaß in der Stimme, aber ich verstehe die Zeichen sehr wohl. Ich bin da ein wenig leger geworden. Unangenehm nun, wie abgelaufene Restware am Ende der Woche der netten Supermarktfachkraft zu begegnen, die so freundlich ist und blaue Augen hat. Mir hingegen fehlt nur noch so ein rotes "30 Prozent"-Rabattetikett auf der Stirn.

Letztens habe ich sie beim Abbiegen in den Gängen mit meinem Einkaufswagen fast umgefahren, konnte aber rechtzeitig bremsen, wie so ein Cabrio vor dem Zebrastreifen. "Danke", meinte sie und lächelte mich an. Ich aber konnte vor Schreck gar nichts sagen. Nicht einmal "Spülbürste" zum Glück, dabei hatte ich das die ganze Zeit im Kopf deklamiert. "Spülbürste, Spülbürste, Spülbürste". Um die nicht zu vergessen.

Habe ich dann aber.