Mittwoch, 17. Mai 2017
Wenn man so ein bißchen verpeilt verträumt ist wie ich, sind gewisse Strukturen hilfreich. Auf diese Weise kann ich mir gut merken, welche Dinge im Mai zu leisten sind. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, beginne ich traditionell wie die meisten Menschen mit der Steuererklärung. Und im selben Monat schon steuere ich nach Wien. Zum Ausgleich. Die Stadt bleibt mir ein entspannender und faszinierender Ort, wie ich gleich in meiner Wohnung im hinteren Stiegenhaus merke. Auch wenn die Zeit, wie mein Reisefoto beweist, dort in manchen Dingen stehengeblieben zu sein scheint, ist Wien zugleich unglaublich modern. Die Kabelbox in meiner Wohnung dort hat nämlich über 200 Fernsehprogramme, so daß ich eigentlich gar nicht nach draußen müßte, um etwas über die Stadt zu erfahren. Im Lokalsender sehe ich Dokumentationen über die umfangreichen, labyrinthischen Keller, die sich quer durch die gesamte Stadt ziehen, einige davon reichen bis zu vier Etagen hinab. Es waren Schutzräume und Lagerräume, Vieh wurde darin gehalten und Belagerungen mit ihrer Hilfe standgehalten. Von einem Nonnenkloster führten Gänge zur Burschenschaft der Universität. Das Kloster wurde vom empörten Bischof aufgelassen und die Nonnen schwer ins Gebet genommen.
Man ahnt, woher die innige Beziehung der Wiener zu den vielfältigen Verschachtelungen des Unterbewußten stammt. Oder besser: worin sie auch Ausdruck finden. Nunmehr wissend zwinkere ich den Wienern, nachdem ich doch einmal die Wohnung verlassen habe, leutselig zu. Sie halten mich für freundlich, nicken artig, sagen "sehr wohl" oder plaudern mit mir an der Supermarktkassa. Wollten sie mich doch in den Narrenturm sperren, so lassen sie sich nur wenig anmerken. Vielleicht, weil sie wissen, daß ich ja doch wieder heimfahren werde.
Ich mag das Konzept "Ferienwohnung". Nach zwei, drei Tagen habe ich meist wirklich den Eindruck, am anderen Ort nicht nur Tourist, sondern tatsächlich ein Einwohner zu sein. Ich grüße im Hausflur die anderen Mieter nachsichtig, weil ich weiß, welche Fernsehprogramme sie abends schauen, schaue nach der Post, trage wie andere Menschen selbstverständlich den Müll herunter, füttere die fette Katze der Concierge und schnappe mir schließlich den Straßenbesen, fege pfeifend wie ein lässiger Viertelbewohner den Gehsteig und scheuche fluchend und schimpfend Unbefugte und Rabauken fort.
Kurz bevor ich anfange, ein Nachbarschaftsfest zu organisieren, muß ich meist schon wieder heimfahren, aber bis dahin war ich ein vorbildlicher Bürger der Stadt. Gerne biete ich auch ganz Österreich, in der letzten Zeit in politische und organisatorische Turbulenzen geraten, unverbindlich meinen Rat an.
Sonntag, 30. April 2017
Wenn ich abends vor dem Zubettgehen mein allwissendes drittes Auge herausnehme und in ein Glas auf den Nachttisch lege, wird es ja eigentlich Zeit, die beiden anderen Äuglein zuzumachen. Meist aber muß ich noch nachdenken. Oft schleiche ich mich ja unerkannt durch die Stadt, weil ich der Mann der tausend Masken bin. Morgens greife ich mir einfach eine aus meinem Maskenkoffer und mache mich unsichtbar.
Dann beobachte ich aus der gut getarnten Verschmelzung mit der Umgebung heraus Szene wie die heute im Park, als ich dachte, da schnattert eine Ente, die klingt wie ein Mann, der wie eine Ente schnattert. Es war aber ein Mann, der wie eine Ente schnatterte, die sich anhörte wie eine Ente, die schnatterte wie ein Mann, der eine Ente imitiert. Hintergrund dieses am öffentlichen Ort vorgetragenen Gebarens war die Bespaßung eines Kleinkindes, wo ich auch nicht weiß, wie lange das abends noch wachliegt zum Nachdenken und über erwachsene Enten und Entenerwachsene sinniert.
"Mach's wie die Ente und laß alles an dir abperlen", ist ja eines meiner zahlreichen Lebensmotti, die ich morgens aus dem Mottokoffer greife, um mich für den Tag zu präparieren. Heute sind viele Hexen in der Bahn und auf den Radwegen unterwegs auf dem Weg zur Walpurgisnacht, um darin Schabernack zu treiben, wie hier von Stefan Eggeler illustriert. Ich fand den Wind heute auf dem Rad etwas arg böig, so daß ich heute Abend beim Nachdenken Sorge tragen* werde um den Hexenbesenluftverkehr im Harz und den zivilisationsentbundenen Randbezirken der Stadt. Ich hingegen lasse alles entspannt an mir abperlen, sitze beim Kaffee, höre ein wenig Webern, weil mich das Abstrakte und Musikböige darin noch mehr entspannt und lasse mich endlich weiter mit der zweiten Staffel Penny Dreadful hexenberieseln.
Der Geschichte darin konnte ich schon in der ersten nicht wirklich folgen, mir ist das ein wenig zu personalreich, und Eva Green zieht sich nun auch nicht in jeder Folge aus. Sie weint aber sehr viel, fällt mir auf, und das rührt einen dann ja doch. Als Lookbook und Einrichtungskatalog aber ist die Serie weiterhin phänomenal. Die Klamotten möchte man allesamt sofort erwerben, und das Labor des Herrn Doktor Viktor F. wäre auch für mich ein schöner Arbeitsbereich. Dann könnte ich hier nächtens am Leuchtturmfenster sitzen, auf ein Gewitter warten und so eine Bellmer-Puppe zum Leben erwecken. Für den Tanz in den Mai.
Freitag, 28. April 2017
Wer was sehen will vom Leben, der muß auch hingehen: Diese Woche endet die Ausstellung Something Strange In The Neighbourhood (Finissage am Samstag). Roman Klonek, Gary Taxali, Atak, Amandine Urruty, Marco Wagner und Heiko Müller zeigen Bilder mit Borsten und Widerhaken bei Feinkunst Krüger, und wer jetzt noch nicht da war, sollte sich sputen. Lehrreiches von Atak über Martha, die letzte Wandertaube (sein lehrreiches Kinderbuch über diese traurige, aber leider wahre Geschichte über die Ausbeutung der scheinbar unerschöpflichen Natur ist in der Galerie erhältlich), unheimliche Waldbegegnungen von Heiko Müller (auch von ihm zwei ganz, ganz tolle Bücher!) und allerlei obskure Gestalten auf den anderen Wänden - die einzelnen Positionen ergänzen und kontrastieren sich wirklich sehr hübsch.
Hier noch Bilder der Ausstellung. Danach ist man belehrt und begeistert, unterhalten und nützlich erregt. Eine perfekte Vorbereitung für das Maiwochenende.
"Something Strange In The Neighbourhood". Feinkunst Krüger, Hamburg. bis 29. April.
Mittwoch, 19. April 2017
Manchmal, wenn der Affe traurig ist. Manchmal, wenn der Affe müde ist. Manchmal, wenn der Affe einen Affen schiebt. Dann muß er ran an den Strom, muß er ran an den Strom. Dann wird er zum Elektrolurch, dann braucht er Energie.
Wenn er morgens Pause macht. Wenn er morgens ein Päuschen macht, erstmal ruht und sich im Innern fragt. Wenn er einen Gedanken hat. Dann muß er ran an den Strom, muß er ran an den Strom. Dann wird er zum Elektrolurch, dann braucht er Energie.
Manchmal, wenn der Affe Muffe hat. Manchmal, wenn der Affe weiche Knie hat. Manchmal, wenn der Affe das Zittern und das Zagen hat. Dann muß er ran an den Strom, muß er ran an den Strom. Dann wird er zum Elektrolurch, dann braucht er Energie.
Wenn du morgens schon den Affen siehst. Wenn du morgens schon 'nen Affen schiebst. Wenn du deine Arbeit siehst. Dann mußt du ran an den Strom, mußt du ran an den Strom. Dann wirst du zum Elektrolurch, dann brauchst du Energie.
Dienstag, 18. April 2017
Meine Idee vom Leben als Brautkleiddesigner auf Home-Shopping-TV schlug fehl, meine Entwürfe stießen auf wenig Gegenliebe, wurden verlacht oder bestenfalls ignoriert, was mir leichte Grauschleier aufs innere weiße Fest warf.
So machten ein guter Freund und ich also wohltemperiertes Geld mit einer kleinen Möbelmanufaktur, in der wir Kommoden mit raffinierten Oberflächen wie Farben aus echtem Perlmutt und Rochenhaut versahen. Die sahen ein wenig so aus als hätte Francis Bacon Möbel entworfen, war aber alles solide verarbeitet mit Schwalbenschwanzverbindungen und Farbholzschnittintarsien. Die puristischen, schwarz-weißen 80er waren gerade vorbei, man entdeckte wieder ein Gefühl für Stil und komponierte Wohnwelten. Unser Motto lautete, jedem Projekt eine passende, individuelle Geschichte einzuhauchen nach dem an der Hochschule für Visuelle Kommunikation gelehrtem Prinzip "Eine rote Säule belebt jede Inszenierung". Manchmal nahmen wir die rauhen Betonwände eines Duschraums, um sie dunkel zu pigmentieren und auf Hochglanz zu polieren. Dann blieb nur noch die Frage, wie man eine balinesische Trommel als Kosmetikablage in den Raum stellt und daneben einen Vintage-Stuhl aus grünem Samt unter ein marrokanisches Posament rückt. Wir wollten uns mit unseren Konzepten abheben von der altmeisterlichen Opulenz eines Länderpavillons. Mit Kreativität und gutem Willem. Wir schlossen den Laden, als eine italienische Designerin, die exklusive Art-déco-Stücke sammelte, eine Rattan-Chaiselounge für ihren einjährigen Sohn anfragte und ihr die Pirogue von Eileen Gray, die wir gerade als Daybed für gehobene Einrichtungen in der Werkstatt hatten, nicht zusagte. Nach einem bühnenreifen Auftritt meines Freundes ("Wir mögen die Spannung zwischen Messing und Beton!") konnten wir unsere unterschiedlichen Positionen am Markt nicht mehr als spirituelle Souvenirs ausgeben und bedeuteten ihr, sich einen schlichten Steckstuhl... na ja.
(Cut-ups aus: "Places of Spirit - Home, Style, Art". Ausgabe August/September 2016.)
Freitag, 14. April 2017
Die letzten Tage der Karwoche mußte ich mich mit einer technischen Hotline herumschlagen. Von einem Tag auf den anderen war nämlich mein Lieblings-Homeshoppingsender 3sat HD ausgefallen. Auch ein neues Kabel aus Weltraumgeflecht brachte mein Fenster zur Welt nicht zurück, so daß ich den über 12 Stationen laufenden Kreuzweg des Kundensupports antreten mußte. Wenn ich nun aber eines nicht gut kann, dann ist es, mit Roboterstimmen zu diskutieren, die mich auffordern, wechselweise die 1 oder 3 oder die 4 oder die Rautetaste zu drücken. Als mich dann noch eine MP3-Damenstimme belehrend anflötete, doch einfach mal mein Gerät aus- und wieder einzuschalten, erlebte ich den ersten Zusammenbruch.
Vom tief verwurzelten inneren Glauben an das Gutwerden von Dingen gestärkt, wagte ich aber Tage später einen weiteren Anlauf und geriet diesmal in eine Musikwarteschleife, in der allen Ernstes ein Soulstück lief, in dem es hieß: "Some people got a real problem..." Solche sanfte Ironie war natürlich genau nach meinem Geschmack und geradezu begeistert wartete ich stundenlang minutenlang auf den nächsten freien Mitarbeiter. Mir war es bislang nur theoretisch klar, aber die Arbeit in Callcentern muß wirklich... besonders ein. Mein heiter-begeistertes Lob ob der Musikauswahl wurde stumm ertragen, dann meine Meldung und technischen Vermutungen streng nach Liste abgearbeitet, mir das weitere Prozedere erläutert und sich zwischendrin ein halbes Dutzend Mal entschuldigt, wenn er mal was in einer Tabelle nachsehen mußte. Was für eine verängstigend demütigende Situation.
Da trug ich mein Kreuz des dunklen Fernsehbildes gleich viel leichter, denn siehe, es wartet immer noch ein Mann auf dich, dem es schlechter geht als dir. Das auch mal an die Frauen gerichtet. Danach hatte ich mein Mobilfernsprechgerät daheim vergessen, so daß mich die nächste technische Hilfstelle gar nicht erreichen konnte, dann ging es hin, aber auch wieder her, und schießlich hatte ich einen Herren am Apparat, der mit unerschütterlichem Gemüt und väterlicher Ruhe meine Klagen und Vermutungen entgegennahm. "Eli, Eli, lama asabthani" winselte ich, denn nach drei Tagen ohne Heimtrainerwerbesendung Kulturzeit fühlt man sich ja doch ein bißchen verlassen.
Abends erschien ein netter Techniker, aus Polen stammend und so mit der Leidensliturgie seiner katholischen Kunden bestens vertraut. Und ich begriff, je weiter man auf der Himmelsleiter der technischen Unterstützung voranschreitet, um so näher gelangt man an einen Menschen, der zuhört und einen mit warmen Worten umfängt. Erst aber war Bußarbeit zu tun, und so rutschten wir beide auf den Knien zur Antennendose, er zeigte mir seine Meßergebnisse, las aus seinem Tabellenbuch, bemängelte dies, beklagte das, ließ mein Antennenkabel drohend wie eine Geissel vor meinen Augen baumeln, tauschte dann aber die Dose - und siehe da, ein Engelsklang! - die Fanfare des Homeshoppingsenders 3sat HD emanierte auf meinem Bildschirm. Es ward Licht und allgemeine Erlösung.
Nachdem ich erklärte, aus welchem elterlichen Bibelkreis ich meine eigenen technischen Kenntnisse bezogen hatte, fachsimpelten wir noch kurz über diese und jene Details, ehe er lobte und dann erklärte: "Wir hatten früher kein Internet!" Denn unsere Generation wäre früher rausgegangen oder an die Sachen heran, "um Scheiße zu bauen - oder um was zu Lernen". Heute, ein Seufzer zum Himmel, nur noch Computer- und Smartphonedisplays...
Ich bin dafür ein Beispiel. Weil Ostern ist, habe ich der lieben Frau Mutter ein Bildchen gemalt. Das heißt, am Rechner zusammengebastelt. Da sieht man, was für ein Kitsch herauskommt - anstatt, daß ich hingehe und aus irgendeinem Vorgarten echte Blümchen klaue und ihr überreiche. Deshalb, wenn jetzt der Frühling kommt: Geht raus, baut Scheiße und lernt etwas dabei!
Montag, 10. April 2017
Eine der Lebensweisheiten, die mir durch meinen Vater überliefert wurden lautet: "Freundlichsein kostet nichts". Viele sind ja selbst dafür zu geizig, und manchmal geht selbst mir so eine gewisse Muffeligkeit durch, die ich wohl anderweitig aus dem Genpool gefischt haben muß. Heute aber grüßte ich beim Heimkommen die neue Nachbarin recht freundlich, die gerade draußen vorm Haus an die Müllcontainern suchte. Sie aber würdigte mich keines Blickes, und so erfuhr sie auch nicht, daß man besser nicht die defekte linke Containeröffnung benutzen sollte, weil sonst nämlich der Schlüssel stecken bleibt. Das aber erfuhr sie dann gleich auch so, ganz ohne meinen Beirat. Besorgt wie ich bin, läuerte ich aber weiterhin freundlich von oben mit meinem Spähauge durch die Gardine und sah sie dort immer noch Rütteln und Zerren. Das kann also noch länger dauern, ich überlege, überaus freundllich gesinnt, gleich eine Thermoskanne Tee aufzusetzen und ihr runterzubringen.
Ich könnte ihr aus meinen neuen Büchern vorlesen, von denen mir mal wieder niemand was erzählt hät. Zum Glück aber komme ich auch so drauf. Da gibt es diesen englischen Grafiker Graham Rawle, der mit feinem Blick und noch feinerem Skalpell ganz bezaubernde Bücher herstellt. In Woman's World erzählt er eine Geschichte, die komplett aus Sätzen collagiert ist, die er fein säuberlich aus mehreren Jahrgängen Frauenzeitschriften seziert hat. Ich habe den Anfang gelesen, und es funktioniert erschreckend gut. Man ahnt recht bald, wieviele stehende Wendungen es aus diesem Themenbereich gibt, und so ist es auch eine kleine amüsante Studie über Stereotypen. Rawles britischer Humor garantiert dabei für einige skurrile Einfälle, ich hoffe, das bleibt bis zum Ende so.
Für mich noch putziger (und entlarvender) ist das fiktive Diary of an Amateur Photographer, das aus Briefen und kleinen Essays, Teststreifen und Probeaufnahmen, Notizzetteln und Hinweistafeln faksimiliert ist. Das Szenario ist hübsch in eine art Detektivgeschichte gefaßt und spielt Ende der 50er-Jahre, das Buch enthält kleine Schnipsel mit Zeitungsanzeigen für Rolleiflex-Kameras, Ausschnitte aus "Girlie"-Magazinen mit allerlei Nylongedöns und was ein Amateurfotograf halt so alles braucht und sammelt. Ich könnte, so fällt mir dabei ein, die Nachbarin an der Mülltonne auch freundlich fragen, ob ich sie fotografieren darf.
Graham Rawle. Diary of an Amateur Photographer. London: Picador, 1998.
Graham Rawle. Woman's World. London: Atlantic Books, 2005.