Dienstag, 21. Juni 2016


Brutstätten der Maschinenwesen



Obwohl eine Märchenkaiserin darin wohnte, sieht Schloß Schönbrunn ja vergleichsweise fast bürgerlich frisiert aus. Die Größe der Anlage, der Park und die Brunnen, der Ausblick von der Gloriette auf die Stadt machen da viel wett. Aber ein Neuschwanstein ist es nicht. Wer auf Türme und Schnörkel steht, muß trotzdem nicht darben: Zwischen Schwechat und Wien liegt die große Kathedrale, eine Sagrada Família für Freunde imposanter Industriearchitektur. Rohre und Schornsteine, ewig brennende Fackeln machen die Raffinerie zum einem weithin sichtbaren Wahrzeichen der Stadt. Nachts eingetunkt in ein Lichtermeer, verzückt die Anlage wie eine Kultstätte die ankommenden Besucher oder erfüllt die Abreisenden mit Wehmut. "Die Raffinerie in Schwechat bei Wien zählt zu den größten und komplexesten Binnenraffinerien Europas", sagt die Webseite der Betreiberfirma. Sie hat, umgerechnet in aktuelle EM-Zahlen, eine Größe von 200 Fußballfeldern, das ist sehr groß.

Solche Sakralbauten sind denn auch zum Staunen gedacht. In meiner Heimatstadt irgendwo im Bergischen kann man mit der Schwebebahn durch eine der Betriebsstätten eines bekannten Chemie- und Pharmakonzerns fahren, über dampfende Ventile und glänzende Rohre hinweg, Betriebsfahrradwege und farbig lackierte Steigleitungen. Man kann das Ding riechen, den Geschmack von den Zähnen puhlen und sich überlegen wie es wäre, dort nachts von einem Alien gejagt zu werden. Einem dampfenden Maschinenwesen. Das ist die Ehrfurcht, das beklemmende Gefühl, hier nicht nur Idylle zu sehen, sondern Architektur, vor der man sehr, sehr klein wird.

Wenn also derzeit in Frankreich Sportler beim Ballspiel etwas verzagt wirken, sollten sie sich fragen, wie sie fühlten, wäre ihr Spielplatz 200 Fußballfelder groß. Ein Monster in meinem Wandschrank.


 


Samstag, 4. Juni 2016


Bist du Mann oder bist du Molluske?




Kein Wienbesuch ist komplett, ohne einen Spaziergang durch mein Lieblingsmuseum dort. Man sollte es aber nachts machen, wenn nicht Schulkklassen dort herumtollen, natürlich achtlos an der Venus vorbei, aber mit großen Aah! und Ooh! vor Mammuts und Dinosauriern Faxen machend. Das Gebäude selbst ist eine Pracht, die Schätze dort noch mehr. Wer will, trinkt eben einfach einen Kaffee dort.





Lauter tote Tiere, das Bambi aus den österreichischen Wäldern findet man hier, Fische und exotische Säuger, sogar echte Krokodile - wohl dem, der seinen Platz im Tierkreis schon gefunden hat. Irgendwo darunter auch mein Wappentier: der sympathische Dodo.





Rustikale Taxidermie und Rekonstruktionen, empfindliche Nasspräparate und buntschillernde Insekten, ein kontemplativer Ort, an die Häupter seiner Liebsten, die Verflossennen und wie in verwaschenen Fotos noch Bewahrten zu denken. Unruhig wipfelnder Vogel - einst ruhest auch du! Als noch unverstandener, aber insgeheim begnadeter Tierporträtmaler halte ich alles in einem kleinen Skizzenbuch fest.





Wer schon öfter dort war, fndet auch einen Blick für Details abseits der holzgefaßten Schaukästen. Einfach mal hinsetzen, ein bißchen ausruhen. Auch die Bänke und Sitze und Hocker sind hier eine dekorative Wucht.




(Dienstags geschlossen - wo gibt es denn sowas?)


 


Mittwoch, 1. Juni 2016


Merz/Bow, #51



Die krachromantische US-Band Xiu Xiu hat sich (letztes Jahr bereits, aber nun denn) an der Musik von Twin Peaks versucht. Exklusiv für den "Record Store Day" 2016 wurde dazu ein Vinyl-Album veröffentlicht, auf Youtube gibt es den oben verlinkten Extrakt, aber auch komplette Live-Shows ihrer Rußland-Tournee im letzten Jahr zu sehen. Das sage ich ganz nüchtern, die Emotionen sind ja in der Musik.

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Wlanlos in Wien entdeckte ich diesen alten Thorens-Plattenspieler und hätte dort neben meiner immer im Handgepäck bei mir geführten Häkelschallplatte natürlich auch das "Twin Peaks"-Album von Xiu Xiu hören können, hätte ich es denn am "Record Store Day" ergattert. Der Plattenspieler für sich genommen würde auch bella figura in meinem Leuchtturm machen, darüber denke ich maschenweise nach.

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Sigríður Níelsdóttir kennt ihr nicht. Bekannt wird die über 77-jährige Dame aus dem schönen, wenn auch abgelegenen Island nun als "Grandma Lo-Fi". Weil Björk dort nicht die ganze Zeit Musik machen kann, sprang Frau Níelsdóttir ein und spielte einen ganzen Strickkorb selbstgemachter Alben mit Casio-Keyboard und Spielzeuginstrumenten ein. 59 waren es Stand 2014, diese Zahl sollte dem ein oder anderen faul gewordenen Musikanten unter uns ein Ansporn sein. Passend zum unaufgeregten Ansatz ihrer Heimproduktionen, wurde ihr Schaffen auf Schmalfilm und Video dokumentiert. Einen Trailer zu der vergnüglichen Doku gibt es hier.

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Schwerter zu Querflöten, oder: Es liegt ein Klang in allen Dingen. Der Künstler Pedro Reyes aus Mexiko hat sich 6700 (nicht verifizierte Zahl) im Kampf gegen Drogendealer konfiszierte Waffen besorgt und diese zu verschiedenen Musikinstrumenten umgebaut.

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Die "Stalinorgel" muß also kein geschmackloser Scherz bleiben, da ginge was, liebe Flöten von den GRÜNEN, die ihr neuerdings die Waffenindustrie weißwäscht.


>>> Geräusch des Tages: Xiu Xiu mit "Twin Peaks" live in Moskau

MerzBow | von kid37 um 23:19h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Sonntag, 29. Mai 2016


Tage der Entbehrung

Natürlich muß man, will man nicht als Geschichtenerfinder und Rosarotmaler dastehen, auch von den traurigen Seiten einer solchen Reise schreiben. Da hatte ich mich doch vorab bei der Vermieterin versichert, daß es gemeingebräuchliches, fernempfangbares Internet in der Ferienwohnung gibt. Auch hielt sie mir beim Empfang freudestrahlend einen blauleuchtenden Zauberwürfel ("Hier ist das internet drinnen") unter die Nase. Doch die Tränen in meinen Augen sah sie nicht. Die sah sie nicht.

Gleichwohl strukturiert wie immer, aber durchaus auch ein wenig spontan war ich in der Früh nämlich aufgebrochen, ohne das Tablet einzustecken, das frischgeladen auf meinem karg dekorierten Nachttisch lag. Mit leichtem Gepäck, aber schwerem Herzen landete ich also in der schönen Stadt, einem modernen Hiob gleich schweren Entsagungsprüfungen unterworfen.



Was will man da noch machen in einer solchen Stadt, abgeschnitten von fernsprachlichen Kontakten, elektronisch übermittelten Bulletins und Telegrammen? Etwa Zeitungen beim Trafikanten kaufen? Na, man könnte um das Geld vielmehr zum Friseur gehen, sich eine Donauwelle legen lassen und anschließend ins Café, wo die gedruckten Journale ausliegen. Hier ist so ein Tag mit mürrischen Kellnern und schönen Damen im Gastraum angenehm verbracht.



Man kann darüber meditieren, in welchen dieser Weltkurturcafés die Melange mit einem Häubchen Schlagobers oder eben Milchschaum gereicht wird. Wie - außen hui, innen pfui - die Toiletten und Sozialräume im Vergleich zu den plüschigen oder abgeranzten Verzehrstuben gehalten sind, Elias Canettis Die Blendung mag einem einfallen, allein des Titels wegen und weil man in solchen Schänken gleich zum Literaten wird.



Oder, die angebrachte Notiz gab darüber Auskunft, zur frischgeputzten Würstlbude gehen, etws gut Durchgegrilltes mit allerlei Senf zur Stärkung holen und dabei, in einem imitierenden Dialekt und der leichten Muse ja nicht abgeneigt über beispielsweise den großen Wiener Peter Alexander Ferdinand Maximilian Neumayer sprechen, der ja nur zu bald seinen 90. Geburtstag gefeiert hätte.



Gegen Ende der Woche konnte man sogar draußen sitzen, Schuhwerk und Kostüme, erste opulent geblümte Sommerfetzn und hochgesteckte Frisuren betrachten und überlegen, wo man sich heimlich in der Dämmerung in ein Internetcafé schleichen kann. Sonst hat der Entzug aber gut geklappt.


 


Donnerstag, 26. Mai 2016


Theaterferien



Das war knapp. Nach einer Woche Theater und "No! No!"-Skandieren, kam ich am Sonntag quasi mit der letzten Maschine raus, ehe die Grenzen geschlossen wurden. Jedenfalls stand dies als Drohung im Raum, wenn man die Aussagen des potentiellen despotischen Potentaten nur eindeutig genug zwischen den Zeilen las.

Nach all diesem Geraune, den Duellen auf allen Ebenen waren die Menschen wirklich nur noch zittrige Häuflein. Im Flugzeug Schluchzen und Aufregung. Der Kapitän verkündete, das Boarding sei im Grunde complete, man warte noch auf die Startbahn, mehr aber noch auf Beendigung der Probleme um zwei Sitzplätze. Plötzlich stürmte ein asiatisches Pärchen nach vorne, die Kabinentür mußte extra wieder geöffnet werden, der Schlauch hing zum Glück noch dran, schon waren sie raus, Rollkoffer funkenstiebend hinterher. Die waren tatsächlich - Hamburg oder Mailand - Hauptsache Italien! - in der falschen Maschine. Keine Ahnung, wie das überhaupt gehen kann, aber bitte, ein bildhafteres Bild für die Lage von Nation und Europa hätte man auch nicht erfinden können. Aufgescheucht, mindestens zur Hälfte verwirrt, vielleicht wollten die beiden auch einfach nur schnell noch ins Wahllokal. Oder eben: raus, weiter, bloß weg.



Es ist sich knapp noch mal gut ausgegangen, aber bedenklich lange sah es gar nicht so aus. In Cafés aufgeregtes Zwitschern und Gewisper, begleitet vom nervösen Geklimper hektisch gerührter Kaffeelöffel. Ober malten sich probeweise Schmisse aus Schlagobers in die Gesichter, fremdländische Gäste klammerten sich verängstigt an ihre Personalausweise.



In den Nebenstraßen aber weiter alles urschön, selbst in die schiachen Ecken verlor sich zum Ende der Woche ein wenig Sonne. Zum Salat immer ein wenig Schnitzel, wegen der Gesundheit. Frisch geklopft und zurechtpaniert, man muß sich sein Leben schon selbst recht schön machen. Sonst wird das nix.


 


Dienstag, 10. Mai 2016


Spülklar




Die Menschen auf der Welt lassen sich bekanntlich in zwei Gruppen einteilen. Jene, die Weichspüler benutzen, und die, die von dieser penetrant stinkenden Pestsuppe tunlichst Finger und Wäsche lassen. Damit ich ganz schnell Ort und Stelle verlasse, reicht zuverlässig der Einsatz dieser Plörre obendrein fragwürdigen Nutzens, die unter Kriegsächtung zu stellen, der UN-Konvent bislang einfach nur vergessen hat. Dabei muß man meinetwegen gar nicht zu solch offenduftig völkerrechtswidrigen Vergräm-Mitteln greifen, wenn es doch auch einfach gut dosierte Unfreundlichkeit tut.

Sind im Soziallimbo die Schranken erst einmal nach unten durchbrochen, bleibt in aller Regel nur der unter Restwürde zu wahrende schnelle Schuh, das Putzen der Platte, das sich gnädigst kratzfüßig Empfehlen, ergebenster Diener usw., ehe man Rollen in Filmen übernehmen muß, an deren Drehbücher man nur als Stichwortgeber beteiligt war.

So geriet ich neulich etwas vor der Zeit in den Intercityzug Heile Haut, der aber überfüllt war mit Reisenden mit "Jetzt bloß raus!"-Ticket, so daß ein internetbekannter älterer Herr die Fahrt stehend bewältigen mußte. (Da könnt ihr mal 'nen Sozialplattformsturm der Empörung machen!) Organisationsmängel hasse ich ja ungefähr so sehr wie den Geruch und den flutschigen Griff von Weichspüler, nun aber fuhr mein selbstverständlich vorabreservierter Sitz auf einem anderen Zug, und mir blieb der letzte verbliebene Stehplatz direkt an der Türe zur Bordtoilette.

Situation! Wir haben eine Situation! Die olfaktorische Gesamtlage aus einem shitstormigen Toilettendisaster, Reisenden mit schlecht verarbeitenden Schweißstellen und Waggonkupplungsschmiere ließ mich noch mal frisch & neu über den Einsatz von Weichspüler nachdenken. Was, wenn man damit auch vergrimmte Menschen weicher spülen könnte? Flutschig und elastisch machen? Und auch noch ganze Züge und Toiletten beduften? Ach! Hier die Pest, dort die Cholera.

Ich hingegen mags ja verhältnisklar und rein und nehme lieber Essig.


 


Donnerstag, 5. Mai 2016


Paraphernalia



Ich bin jetzt in dem Alter, wo mich vorzugsweise junge weibliche Verkaufsangestellte ganz putzig finden. Ich stehe dann etwas tatterig vor denen, irgendwelche hochpreisigeren Tand- und Altmannbeschmückungsgegenstände oder Sammlerkram auf der Theke, wie diese sehr hübsch aufgemachte Box Die große Untergangsshow zum Festival der "Genialen Dilletanten" im Berliner Tempodrom 1981, krame umständlich nach so einer Elektrogeldkarte und warte dann lange auf die ersten Synapsenergebnisse meine Geheimzahl betreffend. Manchmal sehr lange. Früher®, doziere ich dann, wäre man ja mit dem Krempel unter dem Arm stilecht abgehauen, was ihr aber angesichts des Gesamtzustands® nur ein müdes, mit einem leisen Anflug von Nachsicht untermaltes Lächeln entlockt.

"Noch lachen Sie", lege ich freundlich nach und erkläre jovial und mit nicht nur einem Hauch von Grandezza widerlicher Großspurigkeit, daß im Alter immerhin das Konto gedeckt sei, während das Maschinchen freudig zu piepsen und kein bißchen rabattig zu rattern beginnt. "Am Monatsanfang vielleicht schon", gibt sie sich nicht geschlagen, und beide singen wir den Seufzergesang.

Früher haste organisisiert, heute wird nur musealisiert. Auch ein wenig zwiespältig, liegt darin auch immer eine Art Grablegung. Die kunsthistorische Festschreibung in einen Kanon, Schilder wie "Bitte nicht berühren", "Die Wiese nicht betreten", "Musik nach zehn bitte nicht so laut". Wobei ich letzteres sehr unterstütze, seit feierfreudige Nachbarn zu allen Uhrzeiten ihren mainstreamscheißgequirlten R&B-Mist vom Balkon rüberdudeln. Wird Zeit vielleicht für die Altmann-Resistance. Ein Panik-Orchester.

Radau | von kid37 um 19:20h | 4 mal Zuspruch | Kondolieren | Link