
Samstag, 3. Mai 2014
Auf den monotonen Kilometern meiner Fahrradausflüge zwischen Deichen und dem großen Nichts stellt sich oft eine gewisse entspannte Rückbesinnung ein. So fiel mir ein, als ich auf einen kleinen versteckten finnischen Club traf, wie ich wie so viele damals meine künstlerische Laufbahn einst in kleinen Etablissements als sogenannter "Liedermacher" und "Prostestsänger" begonnen hatte. Mein Erkennungshit, der die Leute regelmäßig mitriß und auch ein wenig zum Nachdenken brachte, lautete: "Beim Bau der Pyramiden starben Leute/Doch was ist heute?/Doch was ist heute?". Ein anderes ging nach einer beschwingt-fröhlichen Marschmelodie: "Gruppense-hex mit Klaus und Liese/Es geschah auf einer Blumenwi-hiese" (die letzte Strophe hatte eine kleine Pointe, die ich extra eingebaut hatte, damit die Leute gleichzeitig aufgerüttelt, aber auch belustigt werden: "Gruppense-hex mit Klaus und Peter/Ja, das kann doch jeder/Denn die Li-hiese entpuppte sich als Fiese/..." usw. usf. Ihr bekommt einen ungefähren Eindruck.)
Fast wäre ich damit sogar auf das Folkfestival auf Burg Waldeck eingeladen worden. Aber wie so oft im Leben mußte ich mir mal wieder selbst Knüppel zwischen die Karrierebeine werfen. Ich dachte, als Protestsänger die Leute auch mal querdenkerisch provozieren zu müssen und wagte es doch tatsächlich, eine elektrische Gitarre einzustöpseln. Da war aber was los! Es gab Tumulte im Publikum und Pfiffe, einer rief "Judas!", und leider war ich damals nicht cool genug, rotzig "Lügner!" zurückzurufen und den Zuhörern meinen neuen Zound einfach unbeeindruckt mit einer radikalen Version von "Beim Bau der Pyramiden" entgegenzudröhnen.
Selbst noch nicht ganz reif hinter den Ohren, denn das war ja früher, dachte ich, gut, dann eben nicht. Ich weiß ja, was ich sagen will. Ihr müßt dann halt unaufgerüttelt bleiben und dumm sterben. So ging das dann auch los mit der Schlagermusik, zu der ich mich umorientierte, weil ich ja Geld verdienen mußte und mir nichts besseres zur Dumm-sterben-Begleitung einfiel. Aber gut, ich soll nicht immer so viel von mir erzählen. Ihr habt sicher auch was Interessantes erlebt.
Es geht also am Ende darum, sich immer wieder neu zu erfinden, um weitermachen zu können. Dazu sind Erinnerungen gut, denn durch sie kann man die Vergangenheit besser verstehen. Und wenn manche reden, ach, Vergangenheit, das ist so 90er - die muß man reden lassen, die machen es sich bequem. Anders die Künstlerin Gemma Green-Hope, die eine kleine, sehr anrührende Videohommage an ihre Großmutter Elizabeth (genannt "Gan Gan") machte, mühe- und liebevoll animiert aus vielen Fotos und allerlei Alltags- und Erinnerungsstücken.
Ist nämlich - und das betrifft die Zukunft! - bald Muttertag. Damit ihr es nicht vergeßt.

Donnerstag, 1. Mai 2014
In der Sonne sitzen, die Reste bedenkend, erste Tests durchführen für weitergehende Bewerbungen. Fight the future, jedenfalls die, die Monsanto, Google und die Agentur für Arbeit für uns vorgesehen haben. Das Ergebnis des ersten Persönlichkeitstests fand ich nicht überraschend. Man muß einfach nur die Wahrheit, die bekanntlich in einem selbst (und auch in dir!) liegt, angeben.
Statt im Knopfloch stecken rote Nelken am heutigen Tag tatsächlich in meiner Vase. Aber die Geste zählt, wie so oft im Leben. Auf dem leeren Frühstücksteller ziehe ich Kornkreise mit Brotkrümeln nach - in Erwartung weiterer Antworten, weiterer Fragen und wieder von vorn. Abends am Hafen sitzen und dabei Molværs Khmer hören. Ein Album, das mich auch schon jahrelang begleitet. Ein fiebriges, kleines Monster.
Bei Ebay von einer sich selber für superschlau haltenden Flitzpiepe 10 Sekunden vor Schluß, just als ich gerade die Hände zusammenklatschen wollte, überraschend überboten worden. Das ist die Wahrheit da draußen: Traue niemandem! Dabei hatte ich mein Limit bereits recht hoch angesetzt. Nachher dachte ich, daß mir die hübsche Sache mehr wert gewesen wäre. Das aber ist falsch: Man muß vorher wissen, was einem eine Sache wert ist. Immer.

Samstag, 26. April 2014
Letztes Wochenende bereits ließ ich die Arbeiten an meinem neuen Roman Vorbestrafte der Liebe ruhen, um ein wenig über Land zu fahren. Der Kreuzbube fährt ja durch Flandern, das ist mir zu weit. Mir fällt dazu aber, es ist das 100jährige Jubiläum, Siouxsie and the Banshees' heiteres Poppy Day ein ("In Flanders fields/the Poppies grow"). Hier ist das alles so selten geworden.
Neulich bereits Anradeln, so ist es ja nicht. Nun die größere Runde, also elastische 35-Hollandrad-Kilometer am Strafgefängnis entlang, weiter zum See und am Yachthafen und am Olympiastützpunkt vorbei, an der Dreieinigkeitskirche zurück den Bogen durchs Naturschutzgebiet und zwischen all den Gärtnereien und den teilweise hübsch angerosteten Gewächshäusern hindurch. Auf einem einsamen Pfad am Entwässerungsgraben kreuzt eine fast schwarze Ringelnatter den Weg, windet sich ins Gestrüpp an der Uferböschung. Grußlos. Schönen Dank, kann ich auch.
Überall, wir sprechen noch über die Ostertage, aufgeschichtete Holzhaufen für das abendliche Burning-Igel-Fest, knisterndes Kokeln und zur heidnischen Feier verklärtes Gartenmüllverbrennen. Bis dahin Sonneninfusion, dabei ganz monoton werden im regelmäßigen Tritt. Nebenbei, zufällig wie ein Steinpilzfund, ein kleines Haus am See entdeckt. Nur durch den Radweg vom Ufer getrennt der schöne kleine Garten, der sich an die hintere Veranda kuschelt. Das kaufe ich dann, wenn ich mit dem Buch fertig bin, das zum Bestseller auferstehen wird.

Sonntag, 20. April 2014
Frohe Ostern ruft das Memento mori, Karwoche vorüber, Fastenzeit vorbei nun also zurück zu den harten Getränken hartgekochten Eiern. Draußen in Büschen und Wäldern pulsiert es, Fülle regnet ins Alte Land, junge Mädchen auf Fahrrädern radeln in kurzen Kleidchen der nächsten Blasenentzündung dem nächsten Abenteuer entgegen.
Entkernte Pudel liegen auf Sonntagsspazierpfaden, der Wind weht dem einen schon Sommernachtsphantasien heran, andere halten sich im wetterdichten Parka bedeckt. Auf der aufgespreizten Skala im Radio die Auswahl zwischen Klassikprogramm, "Streitkräfte und Strategien" und den dicksten Eiern der 89er, 90er und von heute.
Auf der Fensterbank der vertrocknete Strauß aus der Vorfrühlingszeit, jetzt also Batterien tauschen, Blumen tauschen, Blut austauschen. Auf den Wanderpfaden juxen alte Männer im sportlichen Übermut, eine Jugend ohne Jugend steht staunend dabei. Ich mach mal langsam, aber voran.

Freitag, 18. April 2014
Supermandel. Superbude. Supergeil. Um auch mal diesen Refrain anzustimmen. Auf seiner Never-ending-Lesetour war der Superburnster aus der Märkischen Heide in die große Stadt gekommen, um den Abschluß seiner Trilogie rund um den Ex-Musikjournalisten, Ex-Privatdetektiv und nun Möchtegern-Wrestling-Star Max Mandel vorzustellen.
Begleitet von kleiner Band und großer Klappe mandelte sich die irrwitzige Story in bayerisch-barocker Anekdotenpracht durch den rasch verschwitzten Abend. Von wegen heimlich, still und leise/letzter Teil der Reise: Im dritten Band wird noch mal ordentlich auf Zwölf und Nüschel gedroschen, alte Lieben belebt und Verbrechensopfer entleibt - auch wenn Herr Mayer um die subtil angedeutete Krimihandlung sehr konsequent herumlavierte, uns also im nägelbeißenden Ungewissen ließ und schließlich in den blutroten Vollmond in die Nacht schickte.
Die Superbude erwies sich dabei als idealer Veranstaltungsort, gute Größe und kleine Bühne in der "Rock Star Suite" und dazu noch Übernachtunsplatz, für jene, welche sich anschließend nicht nach Hause trauten. Weil sie vielleicht lieber eine alte Liebe oder eine neugefundene beleben wollen. Weil sonst, wie es in Burnsters Ringswandl-Adaption heißt, kannst ja nix mitnehma. Ich bin immun und kam in Streifenwagenbegleitung (andere, nur subtil angedeutete Geschichte) durchs ehemalige Gefahrengebiet zur S-Bahn und heim in mein kleines Wasserschloß.
>>> Berni Mayer. Der große Mandel. München: Heyne, 2014.
>>> Kaputtrock-Trailer

Montag, 14. April 2014
Zuviel Arbeit, wohl. Zuviel Nachdenken auch über den anstehenden Wandel des großen mobilen Ganzen. Bis dahin freuen mich daheim die kleinen Dinge. In meinem Bestreben, unnötigen Plastikmist loszuwerden, habe ich zum Beispiel endlich einen Cutter aus Metall. Der liegt ganz wunderbar in der Hand und hat eine überaus vernünftige kleine Messingschraube zum Feststellen. Schluß mit dem billigen, spillerigen Plastikdreck, wo dauernd was abbricht oder die Klinge nicht richtig stabilhält. War gar nicht teuer und hält ein Leben lang. ich bin mir aber nicht sicher, ob das interessant genug für einen Blogbeitrag ist. Sonst erzähle ich gerne noch detaillierter.
Kleine Dinge, ganz groß: Bärlauchpesto aus der Eifel, so was kennt ihr gar nicht in eurem frankoitalienischem Feinkostwahn. Großer Geschmack in kleinen Gläsern. Mehr braucht man nicht.
Dann erlebe ich seit einiger Zeit interessante Dinge auf diesem populären Kurznachrichtendienst. Ich war der Meinung, ein wenig Dazulernen schade mir nicht und habe das folglich auch mal begonnen. Ich habe sofort ganz viele ehemalige oder sporadisch noch aktive Blogger von früher™ getroffen. Das ist wie mit dem Geld: Die sind gar nicht weg. Die sind einfach woanders! Ich lerne nun jeden Tag dazu, diese Fachsprache dort und Benimmregeln, ich "folge", werde "gefolgt" und natürlich auch "entfolgt", und "geblockt" wurde ich auch schon. Das ist alles furchtbar favorisierend. Toll.
Nebenbei versuche ich zur Abwechslung und aus den Erfahrungen der letzten beiden Jahre schöpfend, Menschen zu verstehen. Aber, oh, diese aufwühlenden Fragen! "Muß ich jeden Tag mit der Freundin reden?" Das Internet weiß auch da kompetente Antwort.
Es ist wieder so weit. Die Abstimmung für die BOBs 2014 der Deutschen Welle hat begonnen. Für Madame Modeste kann man hier abstimmen.
Morgen, Hamburg: Der Burnster liest in der Superbude St. Pauli aus dem dritten Teil seiner Mandel-Trilogie. Hingehen, das wird ein großer Spaß!

Sonntag, 6. April 2014
Die letzten munteren Tage habe ich, schön auf dem Sofa in eine Zwangsjacke eingemummelt, mit der zweiten Staffel von American Horror Story verbracht. Zum einstigen Serienstart in Deutschland hatte sich Dietmar Dath ja euphorisiert in der FAZ geäußert, die Wallungen konnte ich für die erste Staffel allerdings nicht ganz teilen. Diese Ansammlung von Geistern in immer demselben Spukhaus, die sich aber nie zur selben Zeit auf den schlurfenden Schuhen standen, überzeugte nicht so recht, auch wenn das rothaarige Zimmermädchen eine Wucht war. Aber schon der von Dath gelobte Vorspann offenbarte ein Problem: die Serie ist handwerklich sehr gut ausgestattet, aber eben nicht wirklich genial. Mit flickernden Schockbildern (und einer unpassenden Typo) huschte das Intro durch einen mit medizinischen Präparaten im Einmachglas vollgemüllten Keller, "Serienmörder!", "Schockexperimente!" schreiend, dabei aus dem gängigen Repertoire einschlägiger Filme zitierend, aber weit davon entfernt, wirklich originell zu sein. Immerhin wurde aber auch nichts falsch gemacht, von den dünnen Stories abgesehen, und Jessica Lange spielt tatsächlich hübsch böse um ihr Leben.
Die - und etliche andere - ist auch in der zweiten Staffel dabei. Ein Ensemblestück, was ganz hübsch ist, wenn man die Leute mag. Wenn nicht, hat man eins von vielen Problemen dieser Serie entdeckt. Schauplatz ist Briarcliff, eine von der katholischen Kirche geführten psychiatrischen Anstalt in den 60er Jahren. Man stelle sich "Shutter Island" vor und fülle den Laden mit Szenen und Personal - das muntere Kinozitieren geht weiter - aus "Einer flog über das Kuckucksnest", "Der Exorzist" bis hin zu "American Psycho" und "Sucker Punch" - oder Versatzstücken aus einer berühmten US-amerikanischen TV-Mysteryserie aus den 90ern (ich sage nur "Entführungen durch Außerirdische"). Zu den Hauptpersonen gehören sadistische Nonnen, vom Teufel Besessene, freudlose Nymphomaninnen, menschenexperimentierende Nazi-Ärzte, perverse Frauenmörder, Borderlinerinnen und Selbstverletzer, machtgeile Kirchenvertreter und blutgierige Lümmel aus dem Mutantenkabinett. Eine streckenweise befremdliche Kuriositätenshow, weil man unbewußt immer klischeeermunternde Regieanweisungen ans Statistenpersonal mithört und daher all überall Insassen mit Köpfen gegen die Wände schlagen, wimmern und zappeln und religiöse Texte rückwärts sprechen.
Wie es halt so ist! Damals in den 60ern. Elektroschocks und Eispickel-Lobotomie dürfen nicht fehlen, Eis- und Hitzebäder, dazu einiges für Fetischfreunde: Fesselungen und Fixierungen, Doktorspiele und das gut gefüllte und eifrig genutzte Peitschenkabinett von Jessica Lange, die als Sado-Nonne die disziplinarische Oberaufsicht führt. Eine ziemliche Schlitterpartie am voyeuristischen Exploitation-Trash entlang. Dabei, von ein paar Durchhängerfolgen abgesehen, insgesamt tatsächlich recht spannend, auch wenn die zahlreichen Wendungen dieser irren Horrorcollage weniger glaubwürdig als eine durchschnittliche Folge "Akte X" sind. Ein großes Problem: anders als in besagter Mystery-TV-Serie fehlt eine durchgängige Identifikationsfigur. In American Horror Story agieren nur Unsympathen, da ist niemand, auf dessen Wertesystem man bauen könnte (das macht es so menschlich!). Schwierig also, aber atmosphärisch toll und voller Einrichtungsideen für morbideres Wohnen.
Gedreht wurde nämlich zu meiner Überraschung nicht in einer aufgelassenen alten Einrichtung. Die mit Patina und vielfältigen viktorianischen und Art-Déco-Elementen versehenen Räume wurden allesamt im Studio nachgebaut, gekachelt, gefärbt und für einzelne Szenen vollgemüllt,wie die "Extras" enthüllen. Anregungen fand man unter anderem in dem tollen Bildband von Christopher Payne - Asylum: Inside the closed World of State Mental Hospitals. Payne hat über 70, meist seit den 60er-Jahren geschlossene, verfallene Anstalten besucht und (zum Glück ohne HDR-Scheiß!) beeindruckende Bilder mitgebracht. Architektonische Details, berührende Spuren und Hinterlassenschaften von einstigen Insassen (z.B. ein übergroßer Schlüsselschrank, in dem fein säuberlich aufgreiht Zahnbürsten hängen), kühle Interieurs zum Teil mit dem erschreckenden Nachhall (einst) üblicher Behandlungspraxis, zum Teil den Shabby Chic heutiger Inneneinrichtungskataloge atmend. Ein sehr unaufgeregtes, großartig fotografiertes Buch.
Wem das übrigens alles zu frivol scheint, dem sei die Doku empfohlen, die morgen im WDR gezeigt wird. Hölle Kinderpsychiatrie spürt dem echen Grauen der Zustände (und ihren bis heute nachwirkenden Folgen) in der Kinderpsychiatrie* in Marsberg im Sauerland nach. Nadja Kerschkewicz, Anne Kynast und Martin Suckow sprachen mit ehemaligen Insassen, die in den 60er Jahren vieles von den oben erwähnten Zuständen - Zwangseinweisungen, Gewalt und Mißbrauch durch Pfleger und Nonnen - am eigenen Leib erdulden mußten.
(Christopher Payne. Asylum: Inside the closed World of State Mental Hospitals. Cambridge, Ma.: MIT-Press, 2009.)
* Spiegel Online zu den Anschuldigungen gegen das nordrhein-westfälische St. Johannes-Stift
