
Montag, 5. März 2012
Mit schwachem Bein und schwachen Auges runter zum Fluß, fünf Zentimeter mehr Kondition, der Rest sei auch ein wenig Tagesform. Keine Sorge, sagt Frau Sorge. Die Definition sei so und so, und alles andere ist dann was anderes. Ein bißchen anders also im Kopf, schlecht geschlafen, beim nächsten Mal vielleicht besser Mohnkuchen backen, überlege ich.
Hier stapeln sich Dinge. Korrespondenz, Bücher, Musik, Filme, Zeitschriften, das müßte alles mal gesichtet und sortiert und beantwortet und veranlaßt werden. Überhaupt diese Veranlassungen. Erst veranlaßt, dann aufgelassen wie ein verfilzter Kleingarten oder ein marodes Baugelände. Ich fahr die Siegerstraße hinunter, aber wenn alle mal ehrlich sind, so viele kommen einem da auch nicht entgegen, ein verlassenes Gelände dieser Tage, wird Zeit, daß der Frühling kommt mit seinem hysterischen Gelächter.
Mein Leben wurde ja bereits in den 70ern verfilmt. Man änderte nur ein paar Dinge, machte im Film aus meiner Arbeitsstelle eine Fischfabrik. Dafür hatte der Hauptdarsteller eine verblüffende Ähnlichkeit mit mir, bis hin zu gewissen Manierismen bei der Kleidung. Ich summe den halben Abend das Titellied. Stückweise. Dann warme Milch und wieder kein Schlaf.

Sonntag, 4. März 2012
Jetzt kann ich nachts, wenn ich nicht schlafen kann, aufstehen und mir ein Stück Kuchen abschneiden.

Freitag, 2. März 2012
Für mich ist ja jeder Tag wie ein Abenteuer Experiment. Auch wenn ich die tausend Möglichkeiten manchmal erst hinterher sehe. Aber Zeit und ihr Gefüge verhalten sich vielleicht nicht nur nach den Regeln, wie wir sie kennen. (Schlag nach bei Fox Mulder). Neulich erst fand ich mich in meiner Versuchsküche ein, um einen quirligen Tag zu beginnen und nebenbei den Lauf der europäischen Geschichte zu verändern, würde der Zeitstrahl einmal umgekehrt verlaufen.
Aber von Anfang an. Der Schlüssel zum Herzen eines Mannes ist ja in aller Regel ein guter Kuchen. (Schlag nach bei Dale Cooper.) Allerdings ist meiner Erfahrung nach das Talent zum lockeren Backwerk bei Frauen ähnlich vom Aussterben bedroht wie auf der Welt nur der Chinesische Flußdelphin. Als ich also am Wochenende früh und wie noch schicksalslos erwachte, erinnerte ich die alte Handwerkerregel: Willst du es richtig gemacht haben, mach es selbst. Meine noch jungfräuliche Margrethe winselte sowieso schon lange Füll mich! Rühr mich!, den Vorratsschränken entlockte ich durch langes Suchen und orphische Gesänge ein ganzes Zutatenpotpourri, das ich nach und nach 400-Watt-verstärkt zusammenmengte. Leider hatte ich nur dunkles Vollkornmehl im Haus, aber nun mag man mich schimpfen wie man will, an Experimentierfreude mangelt es mir trotzdem nicht. Egal, heut' ist Sonntag, dachte ich, mixte also unbeirrt das dunkle Mehl im Takt meiner Küchenradiomusik.
Mit dem ins Auge geklemmten Fadenzähler beobachtete ich den Fortgang und konnte eine Stunde später sagen, heureka*, mir ist da was im Ofen gewachsen! Ein bißchen viel des wildgemischten Teigs vielleicht, so ungegürtelt wie die Masse anschließend auseinanderging. Andererseits zeigt es wieder nur, wie richtig die altbekannte Weisheit ist: Man soll große Taten nicht in kleine Formen pressen.
Der Kuchen schmeckt tatsächlich ganz gut. Also "gut" wie, gut, ein wenig nach Vollkornbrot vielleicht. Nicht wie in "einen Kirschkuchen haben die da - sagenhaft!" (Schlag nach bei Dale Cooper). Ich nenne es mein Marie-Antoinette-Rezept. Kuchen essen und dennoch Brot dabei empfinden. Die Revolution, schreibt es in eure Geschichtsbücher, wäre also gar nicht nötig gewesen.
* Das ist Griechisch und heißt: "Da fliegt uns gleich was mächtig um die Ohren".

Donnerstag, 1. März 2012
Achtung, Achtung. Aus der Hals-Maul-Opfas-Klinik sind verschnupfte Menschen entflohen. Sachdienliche Hinweise bitte an die Rechtschreibverfolgungsbehörden. Der leitende HMO-Arzt empfiehlt präventiv weiterhin Schal und Mütze.

Dienstag, 28. Februar 2012
Mit diesen vielen jungen Leuten hier auf einmal wird es langsam unheimlich im Viertel. Diesmal strömten sie zum Kunstveranstaltungsraum (so was gibt es hier auch schon) gleich bei mir ums Eck. Der Giger Hans-Ruedi zeigte dort eine Retrospektive. Von wegen passé also, andererseits - sind nicht gerade junge Leute häufig ganz besonders konservativ? Übermäßig neugierig war ich nicht, hatte ich letztes Jahr erst eine Werkschau in Wien gesehen. Aber wenn schon mal was hier im Stadtteil passiert...
Interessanterweise war es doch nicht die Übernahme der Wiener Ausstellung, die Auswahl in Hamburg war eine andere und zeigte deutlich mehr Skulpturen. Die allerdings wirkten ein wenig fremd, weil sie zum Teil aus ihrem Kontext gerissen waren. So war das patinabesetzte Rückteil eines Müllwagens (Passagen) wenig bedrohlich, aber immerhin für Rostfreunde beeindruckend. Gigers Weiterverarbeitung des Motivs ins Obszöne aber fehlte, ebenso wie bei vielen Bildserien. Kein Hinweis auf indizierte Plattencover, befremdliche biomorph-assoziative Formen und Penisparaden. Definitiv undersexed und ein wenig domestiziert wirkte folglich diese Hamburger Werkschau eines großen Verstörungskünstlers. Auch die tragische Geschichte um die einstige Lebensgefährtin, Muse und Model Li Tobler blieb ausgeklammert. Die Schauspielerin hatte sich 1975 mit gerade einmal 27 Jahren erschossen und ließ einen erschütterten Giger zurück. Dieser deutliche Wendepunkt ist immerhin ein weiterer möglicher Schlüssel für Teile seines Werkes, der einer "Retrospektive" gut angestanden hätte. Überhaupt kam die Frühzeit etwas kurz. Die "Atomkinder", Gigers Schülerarbeiten, waren (in Teilen) zu sehen, in Wien gab es darüberhinaus aber auch Dokumente aus frühen Galerie-Zeiten, wo Giger mit aus harten Brotlaiben ausgehölten Schuhen zu Ausstellungen erschien. Dafür gab es das Alien und ein paar andere Monstren, besagte Möbel und viel zu viel hinter Glas. Nicht, daß man bei Airbrushbildern großartig auf Strukturen und Haptik hofft, aber so hermetisch gegen den Alienatem der Besucher geschützt, hätten es auch Posterdrucke sein können.
Die Schau läuft noch bis zum 3. März, wer sie sehen will, muß sich sputen.
Anschließend zur HfBK, diplomierte Kunst anschauen. Im labyrinthischen Gebäude verteilt, zeigte sich großteils ebenso gezähmtes, ganz anders als auf den Jahresaustellungen, wo die Pferdchen freier laufen. Ein, zwei chinesische Malerinnen fielen mir auf, Christin Kaiser bekam darüber hinaus von mir den "Mutpreis", sie hatte gleich das ganze Atelier mit ein paar tausend Litern Wasser geflutet, das teuflische Duo Simon Hehemann und Stefan Vogel, verbrauchten den von ihrer letzten Ausstellung bei Feinkunst Krüger übriggebliebenen Gips und gestalteten einen begehbaren Stalakmitenwald in ihrem Atelierraum. Interessant auch Carsten Bengers Arbeit, weil er dabei die Aktion von The KLF zitierte, die 1994 ihre künstlerischen Einkünfte (eine Million Pfund) auf einer schottischen Insel verbrannten. Heute verbrennen nur noch Nichtkünstler Geld. Das sind dann aber gleich Milliarden.
(H.R. Giger. "Retrospektive". Fabrik der Künste, Hamburg. Bis 3. März 2012; "Absolventenausstellung 2012". HfbK, Hamburg. 23.-26.2.2012)

Sonntag, 26. Februar 2012
Herrlicher Sonnenschein heute, da will man nicht unter der mit schwarzer, viktorianischer Spitze versehenen Marquise Markise liegen, sondern raus, raus, raus. Im experimentellen Selbstversuch, wie sich die allgemeine Wackligkeit und Visuseinschränkung auf dem Rad auswirkt, habe ich mein treues Gefährt ächzend aus dem Winterschlaf geweckt, aufgepumpt und notdürftig saubergewischt. Dabei eine beklemmend-interessante Entdeckung im Radkeller gemacht: Dort, wo bislang nur Baumarkt- und Gerümpelräder standen, hat sich nun ein Raleigh mit Brookssattel dazugesellt. Gentrifizierung allerorten, sie rücken immer näher. Nun, vielleicht sind es ja nette Leute. Vorsichtshalber habe ich mich heute aber mit Helm auf meinen eigenen Brookssattel geschwungen, nicht wegen der neuen Leute, mehr der Situation geschuldet, von der der Konditionseinbruch durch Winterpause und Flachliegen nur bescheidener Teil sind.
Dementsprechend langsam ging es voran, und mächtig verschwitzt, die kleine Runde runter an die Elbe, viel Betrieb bereits am neuen Café, im Frühjahr wird dort kein Durchkommen sein. Mein Tablett, das mal am Rande erwähnt, kann übrigens auch GPS. Ich weiß, ihr habt alle Smartphone oder wie das heißt und kennt das schon lange, ich aber war jetzt doch erstaunt, ein rotes Kreuz (nicht der Sanitätsdienst) auf der Straßenkarte zu entdecken, nur zehn Meter von meinem tatsächlichen Standort entfernt. Was es alles gibt. Und was die jetzt alles über mich wissen! Fast so viel wie ihr.

Samstag, 25. Februar 2012
Die Ratlosigkeit der Ärzte ist immer meßbar an der Frequenz, mit der sie auf die reichhaltige Forschungstätigkeit hinweisen. (Zitat: "Das betrifft oft junge Menschen. Die will man schließlich in Lohn und Brot halten.") Nun bin ich nicht nur erfreut, zu einer jungen Zielgruppe zu gehören, nachdem schon lange Jahre mein als Kokettieren mit dem Alter längst nicht mehr als Kokettieren verstanden wurde (von sogenannten "jungen Leuten" selbstverständlich). Ich habe mein Labor natürlich sofort umgeräumt, um mich fortan selbst verstärkt insbesondere der Hirnforschung zuzuwenden. Schon allein, um nicht nur in Lohn und Brot, sondern auch in Bewegung zu bleiben.
Meine neues Role-Model ist ja der liebe Dr. Finkelstein, wir erinnern uns, der geniale und gutherzige Wissenschaftler, der von der bösen Sally so gequält wurde. Derzeit aber hänge ich eher noch wie Fox Mulder über La Science des Monstres, ein exquisites und reich bebildertes Fachbuch von 1948, das mir zusammen mit vielen Genesungswünschen überreicht wurde (Großen Dank nochmal!). Daß mein Französisch gleich mancher Nervenbahnen quasi eingerostet und ziemlich unbrauchbar geworden ist, nehme ich nur als geringes Hindernis war. Mit Hilfe eines alten Anatomiebuches fahre ich die roten und blauen Linien wie auf einem Schnittmusterbogen nach, vergleiche die Bezeichnungen, rate die Bedeutung (bin doch erstaunt, wie dick so ein Ischiasnerv sein kann) und vergleiche es mit den am Bauch zusammengewachsenen Skeletten und einäugigen Wesen in La Science des Monstres. Da Tierversuche ja böse sind, werde ich meine Versuchsreihen an Hülsenfrüchten vornehmen. Das nämlich waren in der Grundschule (1948ff.) die ersten Versuche, an die ich mich erinnere. Erbsen und Bohnen auf einer Untertasse keimen lassen, mal bedeckt, mal unbedeckt.
Wer sich medizinisch schick bedecken möchte (super Überleitung, ein Ergebnis meiner Reizstromexperimente) werfe bitte mal einen unentzündeten Blick auf das Projekt von Suzanne Lee. Die forscht am berühmten Londoner Saint Martins über Kleidung aus Zellkulturen. Nachwachsende Unterhosen und echte "Haut" Couture, ganz faszinierend.
(Étienne Wolff. La Science Des Monstres. Paris: Gallimard, 1948.)
