Samstag, 3. Oktober 2009


Die Elbe trug ein frostiges Gesicht

You take my hand,
I'll take your hand.
Together we may get away.
This much madness
Is too much sorrow,
It's impossible
To make it today.

(Neil Young, "Down By The River".)



Die Seele, heißt es, brauche drei Tage länger. Vorausgeeilt, verflogen, aber gelandet, sortiere ich meine Sachen, die Habsburgseligkeiten, die vielen Bilder, die zu wenigen Bilder, die Sprach- und Wortlosigkeit, die zögerliche Betrachtung im Spiegel, die ganz leisen Fragen und sanften Antworten. Spätestens Montag wieder bei sich sein zu müssen. Das Schulterklopfen der Kollegen und wie sie einen am Ohr ziehen, mich sanft verspotten, die Messer abnehmen und ein Arbeitsgerät in die Hand drücken werden.

Die Elbe trug ein frostiges Gesicht. Wie eine abgeschossene Maschine trudelte ich durch die zerrissenen Wolken. "Es ist Herbst", sagte neben mir seufzend ein Rentner. Ja, endlich, murmelte ich. Endlich wieder Herbst. Und die Musik vielleicht tanzbar, aber immer noch nicht laut genug, das pochende, stotternde Motorengeräusch zu übertönen.


 


Freitag, 2. Oktober 2009


Ach, Landungsbrücken

die schlechte Idee: Gleichzeitige Beschreibung
der Reise und der innerlichen Stellungnahme
zu einander die Reise betreffend.

(Franz Kafka, Reisetagebücher. 26.8.1911.)



Ich bin noch nicht wirklich wieder zurück. Hamburg empfing mich nass und kalt, ein unwirklicher Schock, nachdem ich auf dem Hinflug beim Ausstieg aus der Maschine kurz argwöhnte, aus Versehen nach Rom umgeleitet worden zu sein. 27 Grad, ihr habt ja einen Knall, dachte ich, ich habe kaum T-Shirts dabei. Der Ausflug in die Hansestadt heute war hingegen wie ein Einblick in eine fremde Welt: Auch wenn ich nur ein paar Tage weg war, das Tempo, das ich annahm, war ein anderes. Hier nur hastende, eilende Gestalten, rempelnde Menschen auf den Rolltreppen. Selbst am Geldaut0maten, wo ich normalerweise mit trommelnden Fingern ungeduldig versuche, Geld und Karte weit vor der Zeit aus dem Schlitz zu zerren, ging mir heute alles viel zu schnell, pfiff mich doch am Ende die Maschine an, endlich meine Habseligkeiten aus ihr zu ziehen.



Was brauche ich Geld. Reich beschenkt wie kaum einer kehre ich zurück. Und das ist mir ein wenig unheimlich und erzeugt Wehmut. Hamburg jedoch hat leider Nachtflugverbot. Man soll also erwachsen tun und kann gar nicht sofort zurück. Und dabei dachte ich, in meinem maritim verklärten Alter käme man gar nicht mehr in die Situation, vor irgendetwas Angst zu haben.


 


Mittwoch, 23. September 2009


Zu Wasser, zu Lande, in der Luft



Nach all den Landpartien und wagemutigen Kanalalleinüberquerungen muß ich jetzt dringend die Lüfte erkunden. Ein paar Tage werde ich fort sein, nette Eindrücke sammeln und herzlich Hallo sagen. So mein spontan strukturierter Plan. Bleibt alle brav und eßt eure Teller leer.


 


Dienstag, 22. September 2009


Auspaddeln

...über Bali und Hawaii.
(Lolita, Seemann, deine Heimat...)



Gegen Ende einer jeden maritimen Saison werden Reusen, Angeln und Segel eingeholt. Aber bevor es Zeit ist, die Schlauchboote an Land zu kranen und winterfest zu machen, kann man sie ja noch mal aufpumpen und in die letzten warmen Stunden hinein zu Wasser lassen.

Leider ohne Akkordeon und zufällig auch ohne Ringelhemd steche ich mein Billigpaddel in die See, erst neulich ist mir schmerzlich klar geworden, und nur hier kann ich es zugeben, welchen Trainingsrückstand ich habe. "Peter-Michael Kolbe, sprich zu mir!" beschwöre ich den großen Schutzheiligen des Ruderwesens, Meter um Meter kämpfe ich mich mit übermenschlicher Willenskraft an meinen imaginären Herausforderer namens Muskelträgheit heran. Dann erst einmal eine Pause.



Vom Wasser aus stellen sich viele Dinge nicht so sehr anders dar als auf der Straße. Ver- und Gebote, Abgezäuntes, Deklariertes und Privates, die Freiheit ist immer relativ - und es gilt, sie regelmäßig neu auszuloten (1,87 m Fadentiefe). Auf dem Boot sammelt sich erstes Laub, am Paddel hat sich Seemansgarn verfangen, filziges Zeug, in das man sonst nur die ganz großen Fänge verpackt. Sonst aber Ruhe an Bord, und etwas Wasser. Entspannt gönne ich mir ein Stück Schiffszwieback, lasse mich "mal so treiben", wie es im Lied heißt, ich bin völlig allein auf dem Kanal, nur ein Bläßhuhn sucht meine Nähe.



Endlich finde ich ein wenig Zeit, die gesammelten Stapel des Feuilletons der letzten Wochen durchzulesen. Das Boot locker an einer Weide vertäut, trudel ich durch Wort- und Wellenbewegungen, grüße den ein oder anderen Skipper, der am Ufer sitzt, mir sein Bier entgegenhält oder sich an sein Käppi tippt.

Langsam wühle ich durch die Kanäle, von Gleiten wie bei einem echten Kajak kann nicht so wirklich die Rede sein, meine Paddeltechnik macht zuviel Geräusch, zuviel Wasser, es ist also gut, sich ab und an auszuruhen. Die Sonne geht unter, und ich taste mich zurück durch das Zwielicht. Selbst schon angenehm müde, gleite ich schließlich doch durch dösende Enten, die - den Kopf unter dem Flügel - ihren eigenen kleinen Dämmertörn auf dem Wasser machen. 1-2-3-4!, die Sportruderer ächzen mit ihrem Abendtraining an mir vorbei. Als ich an irgendeiner Böschung an Land schubber (ein Lob der zusätzlichen Nylonhülle, die über und vor allem unter dem Boot liegt), ist es bereits dunkel geworden. Der erste Nachtangler kommt mir entgegen, Schichtwechsel am Kanal. Fische habe ich keine gesehen, sage ich. Schon lange nicht.

>>> Petula Clark mit der französischen Version


 


Montag, 21. September 2009


Spill Yer Lungs

Maybe I should have mentioned
That I was not built for this kind of loving.

(Julie Doiron, "Spill Yer Lungs")



Die Füße in die Sonne halten, überhaupt: von einem Lichtfleck in der Wohnung zum nächsten springen, nicht auf die schattigen Bereiche treten, auch nicht ein bißchen, denn sonst ist man raus. Aber das nur nebenbei, die Uhren ausgedreht, könn' mich auch mal, den ganzen Tag auf- und abhüpfen und dabei Julie Doiron hören. Aber das interessiert wahrscheinlich auch keinen misantrophischen Saisonarbeiter. Ihr Album I Can Wonder What You Did With Your Day fiel mir erst kürzlich in die Hände, könnte aber auch ein ebenso später Sommerbegleiter sein. Mir sind alle Gäste willkommen, solange sie mir kein technisches Gerät von nach 1967 ins Haus schleppen. Wenn man also barfuß auf einer Wiese steht und bis zum Horizont blicken kann - oder bis zur silberglänzenden Fernwärmeleitung, je nachdem, was eher kommt - fällt alles an seinen Platz, der Wind nämlich und der Geruch der Gräser, die Stelle, wo ein Tisch steht und Stühle und ein Erbsenfeld und wilder Wein und ein Schild, auf dem "Unsereins" steht. Und das heißt nicht United Nation of Silliness. Aber auch.

>>> Julie Doiron, Spill Yer Lungs

Radau | von kid37 um 15:43h | 11 mal Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 18. September 2009


Pocahontas





Gestern fuhr ich mit dem Rad ein wenig südlich der Elbe herum, immer schön am Deich lang, bis ich auf dieses kleine Ensemble entzückender Häuschen stieß. Zum Teil verlassen, zum Teil ein wenig nur bewohnt, immer aber mit fingerdickem Charme versehen. Hinter dem Haus eine versteppte Freifläche, verrostete Gewächshäuser, aus denen kleine Bäume ihre Äste recken. Jemand wie ich sieht dort natürlich nur arithmetische Möglichkeiten: Ein, zwei Sack Rotband, drei Eimer Farbe, dann schnell vier Kinder zeugen, schon hat man acht Hände mehr, die zwanzig neue Scheiben in die Rahmen setzen können. Sellerie das ganze Jahr! Und Basilikum! Und links und rechts ein Käsebrotbaum.

Ich mag ja diese unscheinbaren Flecken, an denen oft ganz wunderbare Schätze zu entdecken sind. In der Pause, wenn die Kollegen sich träge nur zum nächsten Mittagstisch schleppen, schau ich mir gern die Eigenheimfantasien hinter dem Krankenhaus an, dort wo Lehrer, Oberärzte und Unternehmer feuchten Architektenträumen quer durch alle kunsthistorischen Epochen (kleine Burgen mit Zinnen und Türmen inmitten einer Rotte Rotklinkerhäuschen!) folgten, bin verblüfft über Wohnungen in alten Wassertürmen, verwunschene Gärten, die sich entblößen, wenn man nur kurz mal - man wahrt natürlich den Anschein von Diskretion - hinter die Hecken lugt. Manchmal komme ich mit den Leuten dort ins Gespräch, man tippt ein wenig hier und hakt ein wenig da und erfährt Geschichten, aus denen sich immer weitere Geschichten spinnen lassen.

In einem anderen Leben wäre ich ja gern Location-Scout geworden. Ich kannte mal eine Frau, die hat das für Film und Werbung gemacht, interessante Ecken suchen, Häuser und Gegenden. Mit einer Polaroid - so lange ist das schon wieder her - zog sie durch halb Europa und pflegte ihre wohlgehütete Kartei. Auf einer Party erzählte sie, irgendwann im Morgengrauen, wenn die schönen Geschichten kommen, von verzauberten Parks und unberührten Anwesen an der französischen Küste, kaum entdeckten Herrenhäusern irgendwo, den Bewohnern und der Arbeit dort am Set. Schien das nicht verführerisch? Unberührte, fremde Schönheiten - das klang wie eine jener unglaublichen exotischen jungfräulichen Prinzessinnen der Südsee, für die manch klappriges Schiff voll Konquistadoren sehnsuchtsvoll gleich über mehrere Ozeane fuhr.

Heute indes gibt es das ja alles im Haifischbecken Internet, und vielleicht ist sogar die Südseeschönheit dabei: bei Airspaces vielleicht oder Light Locations. Muß man schauen. Oder die Geheimnisse besser doch verschleiert lassen.


 


Donnerstag, 17. September 2009


Ventrikel



Gestern ein paar Gläser und Teller für die Volksküche gespendet, du darfst nicht vergessen/zu essen. Ich glaube, die können da gut noch mehr gebrauchen. Aufräumtage, im Gängeviertel wird eifrig geschreinert und gemacht, mir war das Signal, die ein oder andere taube Ecke meiner runtergewirtschafteten Dachstube ein wenig zu beklopfen, bespachteln und neu zu verschrauben. Es gilt, Hirn und Haus herbstfest zu machen, ich will beim nächsten Sturm kein loses Laub in meinem Kopf mehr wirbeln sehen. Ab und an ein paar zürnende Erkenntnisse, die hölzern auf dem Acker stehen. Aber da war der Gärtner selber schuld. Wie ein Erstklässler sitzt man mit Puzzlestücken und soll Muster legen. Und man hört die anderen verhalten kichern, während man selbst die einfachsten Quadrate nicht sieht. Zu nah dran. Zu wenig Freiräume, um in Ruhe nachzudenken oder ersatzweise etwas anderes zu tun.



Zum Glück gibt es die Prahlsucht, das Plappern und Verplappern, das Verraten und Verräterische aus eitler Selbstgefälligkeit. Sonst würde ich ja immer noch Kreise machen, wo es nur Dreiecke gibt. Mich überrascht meine Langsamkeit. Sonst nichts mehr.

Flanieren | von kid37 um 16:01h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link