Montag, 8. November 2004


Adhoc: Kaufen!

Auch das noch: Während in Deutschland führende Experten mit der Diskussion über die "50 Stunden Woche" und "Urlaubszeitabbau" die Binnennachfrage in rasante Höhen treiben, droht bereits die nächste globale Krise:

JETZT WIRD AUCH NOCH SCHOKOLADE TEURER!

Zuneigungssurrogate und Liebeskummer-Sedative könnten in nächster, d.h. in der dunkleren Jahreszeit unerschwinglich werden! Gut unterrichtete Schwarzmarktanalysten raten, bereits jetzt Schokolade zu kaufen!

(Zum Glück ist mein Keller voll mit Nylonstrümpfen, Zigaretten und Schokolade. Harte Währung für kommende Zeiten nach dem Crash.)


 


Sonntag, 7. November 2004


Der gefundene Satz, 10

Die Menschen können nicht stillsitzen und über ihr Schicksal in dieser Welt nachdenken, ohne verrückt zu werden. Deshalb erfinden sie Methoden, um sich von dieser Horrorvision abzulenken. Sie arbeiten. Sie genießen ihre Freizeit. Sie häufen jenes aberwitzige Nichts an, das sie "Eigentum" nennen. Sie streben nach jenem schüchternen Augenaufschlag, den sie "Ruhm" nennen. Sie gründen Familien und dehnen ihren Fluch auf andere Menschen aus. Und die ganze Zeit über ist es ihr dringendstes Bedürfnis, sich selbst zu verlieren, sich zu vergessen, der Tragikomödie, die sie selbst sind, zu entrinnen.

(H. L. Mencken, 1926.)


 


Samstag, 6. November 2004


Künstlerlos

Dying young is overrated.

via Gaping Void

Tentakel | von kid37 um 21:48h | noch kein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Freitag, 5. November 2004


Temptation

A heaven, a gateway, a hope
Just like a feeling inside, it’s no joke
And though it hurts me to treat you this way
Betrayed by words, I’d never heard, too hard to say
Up, down, turn around
Please don’t let me hit the ground
Tonight I think I’ll walk alone
I’ll find my soul as I go home

Manchmal in der Trümmerstimmung von Diskotheken um vier oder fünf Uhr morgens, zwischen letzten Liedern und dem ersten grellen Neonlicht, das sich über zersplittertes Glas, verlorene Feuerzeuge, vergessene Menschen und Unterwäsche ergießt, spürt man eines besonders deutlich: Es gibt keinen Platz, an den man gehen könnte. Mißmutige Kellner fegen den Unrat auf der Tanzfläche zusammen, vor der Garderobe bilden sich Schlangen, erschöpfte, schrille und weinerliche Stimmen mischen sich untereinander.
"Es war doch eben noch da!" kreischt die eine und sucht ihr Portemonnaie.
"Er war doch eben noch da!" heult eine andere und sucht ihren Freund.
Kleine Katastrophen, gestohlene Mäntel, nackt schleicht man hinaus in die kühle Nachtluft. Dort steht die Sehnsucht und blickt einen an. Nicht höhnisch, wie ihr Bruder, der Spott. Nicht kläglich, wie ihr unreiner Wechselbalg, das Selbstmitleid. Nur fragend, zögernd.

Oh, you’ve got green eyes
Oh, you’ve got blue eyes
Oh, you’ve got grey eyes
I’ve never seen anyone quite like you before
No, I’ve never met anyone quite like you before

Man nimmt sich vor, daß dies das letzte Mal sein würde. Das letzte Mal zwischen Demütigung und einsamen Wegen durch die Nacht. Das letzte Mal, das man auf der Brücke stehen würde, den Wind gefangen in der Jacke, die man mühsam um den zitternden Körper geschlungen hält. Das letzte Mal, das man auf die Züge wartet, die unter der Brücke hindurchfahren. Das letzte Mal, das man hofft, sie brächten einen hinaus aus der Stadt. Hinaus aus diesem Leben. Hinaus in ein anderes Land.

People in this world, we have no place to go
Oh, it’s the last time
(New Order, "Temptation")

An der Tankstelle gibt es Bier und ein paar Menschen noch. Ein übermüdeter Mann füllt draußen Benzin nach. Auf der Karte an der Wand erkenne ich den Weg zu meiner Wohnung. Etwas, das sich "Zuhause" nennt. Kein Heim.
Dort sind die Fenster alle geschlossen. Wenn ich dahinter winke, wird es niemand sehen. Ein letztes Mal. Nie habe ich jemanden getroffen so wie dich.


 


Donnerstag, 4. November 2004


Industrieliebe

I am mesmerised by my own beat
Like a heartbeat
(Wire, "Heartbeat")



"Die Frau ist nett", sagt sie leichthin. Er ist erstaunt, wen sie alles kennt. Man interessiert sich eben, denkt der Mann und beschließt, fortan diese Länder mit "I" zu meiden. Iowa, Indonesien, Indien und so weiter. Immer.

Nicht aber die Industrieruine. Am Fuße des Kraftwerks trieben sie sich einst rostige Nägel ins Fleisch. Ein Zeichen der Liebe, besiegelt mit einer geteilten Flasche dünnen Bieres. Ihre Stiefel sinken tief in den morastigen Schlick.
"Macht nichts", meint sie. "Die sind dicht."

Er hält ihren Arm und betrachtet die Narben. Sie sind noch immer nicht richtig verheilt. Sie trägt eine Uhr. Dabei ist es doch immer zu früh. Oder zu spät. Sie nimmt seinen Unterarm, leckt leicht darüber, schaut ihn an dabei. Wir hätten nicht herkommen sollen, denkt er.

Das ruhige monotone Brummen der Anlage summt im Hintergrund wie ein heiliges Mantra. Eine Litanei für künstlich perforierte Körper. Öffnungen für erweiterte Wahrnehmung. Vielleicht. Der Industriemensch pulsiert entlang seiner elektrischen Drähte, wie ein Roboter. Aufgeschreckt durch Radiophone und dem lilafarbenen Glühen der Magic Wands. Abgestumpfte Tiere.
"Did you ever conceive that you too can leave exactly when you like?"
(Wire, "I Feel Mysterious Today")

An den zerfallenden Mauern der Maschinenhalle hält er Ausschau.
Nach kleinen Zeichen. Etwas Eingeritztem. Ein silberner Fisch. Ein verbogener Stacheldraht. Verschlungene Initialen. Weiter vorn gibt ein zerfetztes Stück Eisenzaun eine Öffnung frei. Drüben ist das andere Land. "Hier," sagt er. Er reicht ihr ein Stück von seinem Proviant. Sie nimmt es, sieht ihn wieder an dabei. "Ich gehe allein", sagt sie.

"Ja," sagt er und betrachtet einen Wetterballon, der am Horizont verglüht. Immer allein.
Nur heute war bedingungslos.


 


Donnerstag, 4. November 2004


Von wegen Männertag

Heute ist ja angeblich Tag des Mannes, man mag es kaum glauben. Tag des rumlungernden Mannes vielleicht.
Ich wartete heute auf den fest eingeplanten Anruf aus Halle/Saale. Der kam aber nicht. Dann fiel mir ein - ha, die haben ja möglicherweise noch gar kein Telefon!
Es wird ja wohl kaum an etwas anderem gelegen haben.

Der Anruf hätte mir eigentlich im nächsten Jahr vier sorgenfreie, wenn auch arbeitsreiche Monate in einem fernen Land bescheren sollen. Was sage ich, in einem sehr fernen Land. Aber wenn die kein Telefon haben...

Dann also 1-Euro-Jobs, z.B. Nackt-Putzen. Oder Blutspenden.

Tag des Mannes. Phh.
Tag des gestrandeten Matrosen. Das wär mal ein Tag.

Homestory | von kid37 um 00:49h | ein Zuspruch | Kondolieren | Link

 


Dienstag, 2. November 2004


Süßes oder Saures

I wear my memories like a shroud
I try to speak but words collapse
Echoing
Trick or Treat
Trick or Treat
The bitter and the sweet
I wander through your sadness
Gazing at you with scorpion eyes...
(Siouxsie and the Banshees, "Halloween")

Gestern wagten sich das erste Mal kleine Kinder im Schutze ihrer älteren Schwestern bis vor meine Türe. "Süßes oder Saures" riefen helle Stimmchen hinter grüngrauen Gummimasken hervor.
Ha, Euch geb' ich gleich Saures, ihr Lorbasse! dachte ich. Aber nur kurz. Dann holte ich noch ein paar abgestandene American Cookies hervor. Fanden die gut, die kleinen Racker. Was wissen die schon vom wahren Horror hinter dreifach verriegelten Türen.