Dienstag, 6. April 2021
Wir waren ja sehr arm. Wir waren so arm, da mußten wir uns als Kinder unsere Rollschuhe selber basteln. Von irgendwo alte Räder abmontiert - von der Möbeltruhe, von einem Puppenwagen, einer hatte zwei Laufräder aus den Hamsterkäfigen seiner kleinen Schwester - dann unter die Schuhe montiert so gut es ging - und hui, ab ging es die steile Straße vor dem Haus hinunter. Wer bremst, ist ein Doofi!
Später wurden die Schuhe etwas besser, weil man "aus dem Wachstum raus war", wie getuschelt wurde. Aber für Rollschuhe war immer noch kein Geld, und so wurden zum Start der Saison Jahr für Jahr aufs Neue von irgendwo vier bis acht Räder besorgt und unter die Sohlen gedengelt. Mein Traum, wenigstens einmal der Schnellste zu sein, blieb unerfüllt. Denn die andere Kinder aus der Nachbarschaft bekamen nach und "richtige" Rollschuhe geschenkt, die gab es dann zu Weinachten, sogar samt Schlüssel, und kaum kam die Sonne raus im Frühjahr, sausten sie uns auf ihren glitzernden Schuhe davon.
Ich packte die Schuhe weg, nur ab und an holte ich sie hervor, putzte sie oder justierte etwas an der Aufhängung, hielt sie prüfend ins Licht und legte sie schließlich seufzend zurück. Mit diesen Rädern würde ich immer zu schlecht sein zum Rollschuhlaufen. Meine damalige Bekannte hörte abends oft mein Seufzen, während sie vor dem Spiegel saß und sich in unserer kleinen Wohnung die langen Haare mit einem billigen Kamm ausstrich. Auch ich hörte sie oft seufzen, wenn sich die Grate des Kamms im feinen Haar verfingen, es ziepte und zog, anstatt glatt hindruchzustreichen.
Als Weihnachten kam, faßte ich einen Entschluß. Ich packte die Rollschuhe und eilte zum Pfandhaus. Nie wieder würde ich sie fahren, diese Zeit war vorbei, nun war Zeit für einen Entschluß. Ich schluckte, als mir der Pfandleiher das wenige Geld auf den Tresen legte, ging dann aber gefaßten (und nicht etwa rollenden) Schrittes hinüber zum Budni-Drogeriemarkt, um ein Geschenk zu kaufen.
Am heiligen Abend gab es Bescherung. Meine Bekannte überreichte mir einen kleinen Karton, den sie liebevoll eingewickelt und mit einer Schleife umbunden hatte. Ich öffnete ihn und fand darin acht glänzende Blitzlaufrollen zum Drunterschrauben für Rollschuhe. "Damit das mit deinen ewigen Provisorien mal ein Ende hat", hörte ich, während mir das Rauschen des Blutes in die Ohren schoß. Mein Herz machte einen Sprung, während meine Bekannte ihr Geschenk auspackte. "Jetzt sag nur nicht, du hast dir die Haare abgeschnitten", rief ich, während sie den handgesägten Kamm aus dem Geschenkpapier wickelte. "Nein. Aber jetzt hab ich zwei", sagte sie und holte einen schönen, handgesägten Kamm, den sie sich selbst gekauft hatte, in die Höhe.