Dienstag, 29. Dezember 2020
Mein schönstes Geschenk für die dunkel vernebelte Weihnachtszeit hatte ich stark rabattiert, aber mit ebenso starker Skepsis gekauft. Der Händler meldete vorsichtshalber, nichts über die Lieferzeit zu wissen. Aber siehe, was pünktlich am 24.12. durch den Schornstein in meinen Weihnachtsstrumpf meine Packstation rutschte: Stephen Berkmans Predicting the Past - Zohar Studios: The Lost Years. Das Buch ist ein Fest, ein fantastischer viktorianischer Maskenball. Eingebettet in die Herausgeberfiktion einer "gefundenen alten Truhe mit Zeug" und "von einem Lehrer aus der Bekanntschaft nach besten Wissen und Gewissen aus dem Jiddischen übersetzt" dokumentiert der Band die Geschichte eines Fotostudios in der New Yorker Lower Eastside im 19. Jahrhundert (Übersiedlung aus dem Schtedl, Eröffnung des Studios, Porträtarbeiten, Verlieren der Spur). Eine ausführliche Betrachtung mit zahlreichen Fotos gibt es hier bei UPTV nachzulesen.
Wunderbar aufgemacht mit großformatigen, vorbildlich auf eine (!) Seite (und nicht etwa mit Knickkante über eine Doppelseite) aufgezogenen Bildern, hat hier der Fotograf Stephen Berkman sein über zehn Jahre entwickeltes Projekt vorgelegt. Mit Kollodium-Nassplatte und Großformatkamera schuf er die skurrilen Bilder zur detailliert erfundenen Geschichte des Studios und dem Leben der jüdischen Einwanderer. Dabei nähert er sich dieser Welt aus zwei Perspektiven. Zum einen greift Berkman naheliegende Sujets des 19. Jahrhunderts mit stoischer Ernsthaftigkeit auf, verfremdet sie und setzt dabei auf unser Erstaunen und Unwissen über Alltagsgebräuche und kulturelle Rituale dieser Zeit.
So wird aus dem beliebten Sideshow-Schauder der zusammengewachsenen Zwillinge bei Berkman/Zohar ein Brüderpaar, das absurderweise an den Schnurrbärten zusammengewachsen ist. Das surreal wirkende Titelbild geht auf wiederum auf die tatsächliche, aber wenig bekannte Tradition der Banner Ladies zurück, eine der wenigen erlaubten Tätigkeiten für Frauen, die als lebende Werbetafeln über Gehstege flanierten und dabei Kleider und Hüte trugen, die mit den Insignien der beworbenen Geschäfte und Betriebe dekoriert waren. (Es gibt davon eine Vielzahl von heute skurril anmutenden Fotos im Netz, uns erhalten ist der gute alte Studentenjob als kostümiertes Maskottchen bei Werbeaktionen.)
Diese humoristische Methode des "Es hätte so sein können" findet aber auch aus unserer zeitgenössischen Perspektive eine Verwendung. "Predicting the past" eben, ein Austausch im Verlauf der Zeitachse, die auch für die Zukunft Erkenntnisse bringt. Diese Art der vorausdeutenden Rückbetrachtung ist ja auch eines der Schlüsselmotive in der von mir sehr geschätzten TV-Serie Murdoch Mysteries, die um 1900 spielt und die Erfindungen dieser Zeit (wahre wie den Phonographen, aber auch bloß mögliche, schier irrwitzig ersponnene oder jedenfalls anachronistische) in einen augenzwinkernden Bezug zu unserer Zeit setzt (etwa die vom Detective entwickelte automatische Rollfilmkamera zur Überwachung, bei der fabuliert wird, es ließe sich eine Zeit vorstellen, in denen man solche Kameras zur Verbrechensaufklärung "in der ganzen Stadt" haben wird).
Auch das Zohar-Studio hat solche Erfindungen. Eine hölzerne Überwachungskamera mit der für diese Zwecke völlig aberwitzigen Technik einer Camera obscura oder etwa die Erfindung einer Einweg-Kamera aus Pappe mit der gleichen Technik. Das Was-wäre-wenn-Illusionstheater ist im hinteren Teil des Buches abgerundet durch kulturhistorische Erläuterungen (Texte u.a.: Lawrence Weschler), die Hintergründe zur Geschichte des Studios und detaillierter auch zu jedem einzelnen Bild liefern. Auch hier (ich habe noch nicht alles gelesen) verläuft eine feine Linie zwischen tatsächlichen historischen Gegebenheiten und mit unbekümmerter, para-wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit und (fabrizierten) Dokumenten vorgetragenem Ausgedachten. Für zur unbedingten Authentizität verpflichteten Blogger wie mich natürlich ein hartes Brot und Tobak, den man erstmal schlucken muß.
>>> Rezension bei Lenscratch
(Stephen Berkman. Predicting the Past. Zohar Studios: The Lost Years. Los Angeles, Hat and Beard, 2020.)