Sonntag, 17. Mai 2020


Vom Blatt in die Hirne



Das Leben ist keine Loggia. Deshalb lungerten Literaten im letzten Jahrhundert in Cafés und spelunkigen Nachtschuppen rum, zwecks Weltdiskussion und trunkenen Untergangsshantys. Gedichte dann als Après-Pulverschnee: Hier ein Ach! und dort ein Oh! im zehrenden Ringen um A wie Anerkennung bis D wie demütigsten Dank Herr Doktor für die freundliche Überlassung von 100 Mark, die Sie garantiert zum nächsten 1. des nächsten Monats... Usw.

Walter Rheiner (1895-1925) hieß eigentlich Schnorrenberger, was vielleicht Programm war, sich aber nicht gut auf Buchumschlägen machte. Der Kölner trudelte gen Berlin und schrieb, nicht ganz unerfolgreich, Gedichte im hymnischen Exklamationsstil und veröffentlichte in den relevanten Magazinen der Zeit (u.a. Die Aktion, Der Sturm). Von Dresden aus betreute er auch selbst eine zeitlang die Zeitschrift Menschen und kumpelte ansonsten in der Szene: Rheiner, zeitlebens in finanziellen Nöten, war bekannt mit den Golls, Else Lasker-Schüler, Hasenclever und dem Maler Conrad Felixmüller, ergab sich sonst aber seiner Morphin- und Kokainsucht, tourte durch Heilanstalten, träumte vom Erfolg und erlag der Sucht (und Hoffnungslosigkeit) mit 30 Jahren.

Frau und Kind (ein zweites war in einem Berliner Kinderheim) harrten derweil bei der Mutter in Köln auf Fortschritte oder wenigstens Geld für Brot und Marmelade, während Rheiner den Hausstand versetzte und Bewerbungen schrieb, in denen er sich als "großer Dichter" pries. Überhaupt, neben der deprimierend vorausschauenden Novelle Kokain (1918) ist seine Korrespondenz voller faszinierender Einblicke. Stell dir vor, jammerte er nach Hause, da habe ihm ein Kollege Geld gepumpt, hinterrücks (!) aber bekundet, er, der große Dichter Rheiner, ob der sich nicht schäme, solle mal Verantwortung für Frau und Kinder übernehmen, quasi was arbeiten und nicht im Wirtshaus rumhängen. Eine Unverschämtheit! Rheiners Frau Friederike, genannt "Fo", schrieb allerdings statt Trost zu spenden kühl zurück, sie könne diese Anwürfe allerdings Wort für Wort unterschreiben, wie lange er denn noch auf den Durchbruch als großer deutscher Dichter warten wolle und ob es nicht an der Zeit sei, sich um die Familie zu kümmern. Da war der Rheiner ganz zerknirscht und gelobte Besserung, kam aber weder von der Nadel noch von der Selbstverblendung los. Den Rest erledigte das Großstadtgetriebe.

Hundert Jahre später diesem Ehekrach (Friederike ließ sich scheiden) beizuwohnen, ist ein wenig wie bestimmte Blogs lesen und sich - ganz unliterarisch - einen Reim zu machen. Eine fröstelige bis muntere Faszination. Seine Gedichte zeigen einen wohl oft von sich selbst überwältigten Autor, haben dabei aber häufig eine hübsche Schonungslosigkeit. Expressionistische und erstaunlich aktuell wirkende Stadtbeschreibungen sind darunter wie In Wandel-Halle eisig kalter Tage/Erschauern wir. Wir liegen in den Ecken/Uns überfährt (mit grobem Fluch) ein Wagen.

Der schönste künstlerische Nachruf stammt vom Freund Conrad Felixmüller, dessen Bild den Rheiner zeigt, wie er endlich in den Himmel steigt, die Spritze noch in der Hand.