Montag, 16. März 2020


Aus dem Familienalbum #2



Mein Urgroßonkel Stanislaus, von dem leider nur dieses verwaschene Foto existiert, fand nach dem großen Krieg keine Arbeit mehr und war fortan als sogenannter Wanderimker unterwegs. Mit einem an einem Wanderstock befestigten Bienenkorb zog er über die Dörfer, hielt mal an diesem Heidebusch oder an jenem Akazienbaum, so muß man sich das wohl vorstellen, hielt auch mal Rast an einem Rapsfeld und reiste auf diese Weise immer der wechselnden Blütenfolge nach. Zum Schutz vor den Bienen, die ihn aber gut kannten und selten stachen, hielt er dabei ein Ringnetz vors Gesicht so wie ein Detektiv seine Lupe halten würde.

Stanislaus war findig im Finden, hatte ein Näschen für duftende Blüten und fand so immer die besten Weideplätze für seine summsigen Immen. (In Wahrheit, so ist zu vermuten, waren es die Bienen, die ihre Späher und Scout vorschickten und deren Navigationstänze er lesen konnte. So nahm er seinen "Bienenstock" und ging den Blütenständen einfach entgegen.) Sein Honig galt als exquisit und war daher besonders begehrt. So erhielt er 1927 auch die begehrte Jahresmedaille Goldene Wabe des Imkerverbandes. (Dies war sicher der Anlaß für das Foto, auf dem er die Wabe wohl um den Hals trägt, so weit man das erkennen kann.)



Die Medaille findet sich noch heute in unserer Familienschatulle. Ein Glas Honig ist leider nicht erhalten geblieben, die Vorräte wurden irgendwann zu Notzeiten aufgebraucht. Nun, da ich zuletzt gebeten wurde, für mich selber und meinen beruflichen Wanderweg neue Ziele und Ideen zu entwickeln, hatte ich den Plan, Onkelchen Stanislaus' Tradition als Wanderimker aufleben zu lassen und selber mit einem Bienestock (auf einem Tragestell auf dem Rücken vielleicht oder auch am Wanderstock befestigt) umherzuziehen. Dabei würde ich heute, wo ein Großteil unseres Honigs gemäß Warendeklaration vorzugsweise aus "EU- und Nicht-EU-Ländern" stammt, aber eher in der Wissensvermittlung arbeiten wollen. So könnte ich vielleicht umherwandern und Schulen und Kindergärten besuchen, um Kindern die Welt der Bienen zu erklären. Ganz ohne Maja-Kitsch und nostalgische Verklärung. Leider kam jetzt die Schließung dieser Einrichtungen dazwischen und meine Idee starb einen schmerzlichen Drohnentod.

Stanislaus' Spuren verloren sich irgendwo bei Lüneburg. Vielleicht traf er eine kesse Biene, die ihn in ihre Wabe lockte, so die Version, die wir als Kinder öfter hörten. Vielleicht, so meine dunkel bewolkte Befürchtung, wurde er in einer stürmischen Nacht von seinem Volk erstochen, das seine Panikbeute verteidigen wollte. Ein König Lear der Bienen, der einsam und zerstochen in der Heide endete.