Samstag, 23. Juni 2012


Alice, don't give it away



Ich stand also wie ein verspanntes weißes Kaninchen herum, immer wieder auf die Uhr schauend, die Zeit kontrollierend, meine Güte, die Zeit, die liebe Zeit! Ein Stück weiter wartete eine junge Frau ebenfalls etwas richtungslos in der Zeit herum. Sehr attraktiv Sie fiel mir gleich auf, und da ich, aus einem absonderlichen Grunde oder auch keinem, Blömsche in der Hand hatte, hielt ich es für eine gute Übung, mich an mein weiteres Leben als grauhaariger, im besten Falle harmloser alter Mann zu üben, der dereinst aus seinem Rollator heraus jungen, hübschen Damen Blümchen und ein Lächeln schenkt. Einfach so! Weil ich es kann. "Bitteschön, fürs lange Warten", schnarrte ich also ölig freundlich und übergab der überrascht und aus der Tiefe ihrer offenbar bereits aggressionsgeladenen Gedankengänge mit einem "Hmpf" reagierenden Frollein ein Blümchen aus meinem Gebinde. Gleich dem gebremsten Spiel evozierter Potentiale (für die Hirnforscher unter uns) konnte man förmlich den stark verlangsamten Erkenntnisablauf zwischen reflexartig Hand ausstrecken, Gegenstand in Empfang nehmen, Augen von mir weg auf den Gegenstand lenken, inneres Lexikon durchblättern, auf "Aha, Blume", kenn ich! entscheiden und ein rauhes "Danke" herausstottern. Aber da war ich fast schon weg, die nun fehlende Blume ersetzt durch den Gedanken, "sollte ihr Typ noch auftauchen, wird er eine sehr, sehr, sehr gute Erklärung brauchen". Vielleicht sogar eine Entschuldigung. Besser noch: noch mehr Blumen.

Von meiner eigenen Herzensgüte angenehm berauscht, lenkte ich meine Schritte nun zur Kunsthalle, darin die Ausstellung Alice im Wunderland der Kunst auf dem Spielplan steht. Die kleine Göre, die bei einem älteren Mathelehrer auch eine für manche zweifelhafte, sicherlich aber (s. o.) wohlmeinende Aufmerksamkeit fand, hat ja, seit sie auf der Jagd nach einem Kaninchen in ein tiefes Loch fiel, große Menschen und kleine Menschen zugleich begeistert. ("One pill makes you larger, and one pill makes you small", Q) Neben Fotografien von Lewis Carroll gibt es einige hübsche Positionen zu sehen. William Blakes Porträt der Liddell-Schwestern, Beiträge von Max Ernst und, da muß man durch, Dalí, dazu reizvolle modernere Ansätze, Kiki Smith etwa oder Pipilotti Rist.

Ein wenig fehlten mir Bezüge ins Zeitgenössische. Unter den ausgestellten Buchausgaben hätte sich zum Beispiel die wunderbare Arbeit von Camille Rose Garcia dringend empfohlen. Keine Verweis auch auf Cos-Play-Inszenierungen, aber gut, die Ausstellung heißt eben nicht "im Wunderland der Alltagswelt". Schön ist immerhin der kleine Raum, der sich nur durch eine kleine, sehr niedrige Tür betreten läßt. Habe ich alles geschafft! Allein! Auch ein kleines Wunder.

("Alice im Wunderland der Kunst", Hamburger Kunsthalle. Bis 30.9.2012)