Montag, 21. November 2011


Merz/Bow #30

[...].

#

Wenn, so ein milder Gedanke, es mit dem Radfahren nicht mehr so richtig will, habe ich ein anderes, höchst adäquates Gefährt für mich gefunden. Es löst sogar ein hohes Maß an Begehren aus, ein Empfinden, das in meinem Alter ja erlebensgemäß etwas nachläßt. Man hat ja so vieles schon gesehen. Hier gibt es weitere Informationen. Zum Gefährt, nicht zum Begehren.

#

Das paßt natürlich zu dem Buch, das ich gerade lese. Oder blättere, denn leider übertreibt es das Layout ein wenig mit dem Fifties-Design. In munterem Plauderton gehalten, so als säße man beim Diaabend daheim, also nicht unbedingt tiefschürfend, aber recht vergnüglich, berichtet Marlotte Backhaus von der Weltreise im Kleinstwagen, die sie und ihr Mann in den 50er Jahren unternahmen. Von Hamburg aus über Indien nach Japan, später - im zweiten, etwas größeren Goggo - dann durch Nord- und Südamerika und Afrika. Eine sehr spannende Vorstellung, ein Unternehmen, als Reisen wirklich noch eine Expedition war, zumal wenn es in solche touristisch bis heute kaum oder wenig erschlossenen Gebiete geht. Und ja, zwei Menschen und Gepäck und Filmausrüstung passen in ein solches Auto. Wenn man richtig (an-)packt und ein wenig Struktur in die Sache bringt. Mein Reden seit langer Zeit.

#

Rock ohne Roll. Die Energie ist ja bekanntlich nicht weg, sie ist bloß woanders. Nach 237 Jahren haben Kim Gordon und Thurston Moore (beide ca. 75) die Scheidung eingereicht, hält man ja auch für unnötig so was, aber bitte. Noch unnötiger wohl nur die drohende Konsequenz, daß die derzeitige Sonic Youth-Tour durch Südamerika möglicherweise die letzte gewesen sein könnte. Schwacher Trost ist dieser einstündige, dreiteilige Mitschnitt vom Konzert am 14.11. Ach.

#

Die Kunstwelt in Aufruhr. Eine Biografie über den Kunstsammler Heinz Berggruen sorgt für Wirbel. Im Skandalton der "Enthüllungsbiografien", wie sie seit den 80ern populär geworden sind (Hitchcock war gar nicht nur ein Genie, er hatte auch dunkle Seiten; Picasso war gar nicht nur ein Genie, er hatte auch dunkle Seiten; Einstein war... usw. ad nauseam) hat eine Vivien Stein aufgedeckt: Der Kunstsammler, der zugleich eben auch Kunsthändler war, hat doch tatsächlich mit Kunst auch ein Geschäft gemacht und das offenbar auch deshalb so geschickt, weil er, der nämlich Jude war, und das schreibt Stein tatsächlich, in Deutschland "die Judenkarte" gezogen hätte. Kurz, Berlin erwarb (mit Bundeshilfe) seine heute fast unglaublich und vor allem unglaublich günstig wirkende Sammlung für damals wie heute lächerliche 250 Mio. DM - aber, so suggerieren Stein und ihre Fürsprecher, nur weil Berggruen ans Schuldbewußtsein der Deutschen appelliert habe.

Das offenbar durchweg im polemischen Geiferton geschriebene Buch könnte man schnell ignorieren, hätte es nicht durch eine großaufgemachte Rezension an Öffentlichkeit erfahren. Prominent auf fast eine Seite im Feuilleton der Süddeutschen vorgestellt, sorgte dies für einen zweiten Skandal. Was bewog den Rezensenten, sich die Argumente der Stein offenbar wenig distanziert zu eigen zu machen und überdies das Argument draufzusetzen, die jüdische Geschäftstüchtigkeit zeige sich auch im Treiben des Sohnes Berggruens, Karstadt-Investor Nicolas? Die SZ nennt es ein "Sittenstück", ein "denunziatorisches Werk" hingegen Ex-Kultur-Staatsminister Naumann im Tagesspiegel. In der FAZ rätselt Swantje Karich über die Motive ihres SZ-Kollegen, spricht von einer "Kampagne" und sagt: "Speicher und Stein kokettieren mit dem 'jüdischen Geschäftssinn'". Die Welt schreibt: "Bislang war Speicher eher durch seine Weltfremdheit und hoch gebildete Harmlosigkeit bekannt. Er besaß nicht den Ruf, im Gewerbe der Niedertracht so beschlagen zu sein, wie es nun zutage tritt", ein Urteil, dem ich indes nur zur Hälfte zustimmen kann.

Ich habe den Mann vor über zwanzig Jahren noch in seiner Zeit als Uni-Dozent kennengelernt. Daß er dort auch nur irgendeine seiner Beschlagenheiten oder Gewerbekenntnisse verborgen gehalten hätte, ist mir nicht erinnerlich. Ein interessanter Werdegang also, man fragt sich, jedenfalls so halb, welche Verbitterung da am Werk sein muß, eine doch ganz ansehnliche journalistische Karriere, auch wenn es mit der akademischen nicht so geklappt hat, mutwillig in den Sand setzen zu wollen. Vielleicht diktierte ihm der Wille zur Vernichtung die Feder, der sich nun aber gegen sich selber richtet.

#

Wie der ins Seminar geladene große deutsche Autor eine der kompliziert verstiegenen Theorien des Dozenten mit sanftem Lächeln auf ein common sense-Weltwissen zurückstutzte. Auch dafür danke, Herr Rühmkorf.

#

Proustitute, eines meiner Lieblingsblogs derzeit.

MerzBow | von kid37 um 12:11h | 5 mal Zuspruch | Kondolieren | Link