Freitag, 21. Januar 2011
Man fragt sich, ob die Menschen keine Heizungen mehr daheim haben und nun zum Aufwärmen zu Ausstellungseröffnungen strömen. Rappelvoll waren die Deichtorhallen gestern, dabei war noch nicht einmal der Kultursenator zu entdecken, der an diesem Abend, so hörte man, wohl bei einer Film-Party war. Das in Herr-von-Eden gekleidete Personal ordnete Gedränge, Taschen- und Flaschenverbringung getreu den Regeln, die Gästeliste reichte von F.C. Gundlach (im dunklen Anzug) bis zu bekannten Bloggern (bei Blogger.de weltberühmt) und der Jeunesse dorée der Hamburger Vernissage-Brigade (Schuhe: Fiorentini & Baker). Damit sei die Gesellschaftsprotokollberichterstattung aber auch erfüllt.
Die jährliche Leistungsschau der Fotografieabsolventen hat - nach Durchhängern in den beiden Vorjahren - sich wieder mehr auf die Fotografie fokussiert, die abstrakten Konzepte sind ein wenig zurückgetreten hinter Positionen, die man eher mit dem Medium verbindet. Dabei spielten sich die konstruktivistischen Ansätze (lange keine Rodchenko-Ausstellung mehr gesehen) ein wenig kalt in den Vordergrund. Ein bißchen zu spät, sonst hätten es André Hemstedt und Tine Reimer auf ein Plattencover von Franz Ferdinand schaffen können. Peter Saville hätte es womöglich gefallen, ich möchte derzeit keine Interpol und Kraftwerk-Menschen mehr sehen. Stephan Tillmans (nicht verwandt mit Uber-Wolfgang) zeigt seine Leuchtpunkte, ein weiteres Beispiel für den Kopf, der durch den Sucher blickt.
Ich möchte Herzen sehen. Rebecca Sampson ist meine Gewinnerin des Abends. Für eine inszenierte Reportage besuchte sie eine Fachklinik für Eßstörungen. Ihre Porträts und stillen Tableaus zeigen, zum Teil hyperrealistisch wie in einer Modestrecke, Dicke und Dünne, Unsicherheit, Verlorenheit und tiefe Trauer. Aber auch stille Freuden und ein gewisses Selbstbewußtsein. (Die Originalprints haben übrigens mehr "Punch" als die Fotos auf der Webseite.) Man hat nicht das Gefühl, hier werde ein spekulatives Thema ausgeschlachtet. Man hat das Gefühl großer Nähe und einer manchmal beinahe unangenehmen Intimität, von stillen Geschichten.
Helena Schätzle folgte für ihre Abschlußarbeit an der Kunsthochschule Kassel den Spuren ihres Großvaters, der 1946 aus russischer Gefangenschaft durch Osteuropa floh. Sie reiste den 2621 Kilometern hinterher, porträtierte Zeitzeugen und dokumentierte winterliche Landschaften. Ein emotional-nostalgisches Reportagethema und ein reizvolles Konzept, bei dem mich allerdings nicht jedes einzelne Bild überzeugen konnte.
Wirklich überraschend war (wie so oft in den letzten Jahren) nichts - was wieder einmal beweist, daß Fotografie nicht Pop ist, radikale Brüche und Frische selten sind und nicht zwangsläufig von den Jüngsten kommen. Was noch auffiel: Kein Sex. Kann man wohltuend abgesetzt finden vom Pornoclickschaffen der Generation Internet. Oder bedenklich.
("Gute Aussichten 2011". Deichtorhallen, Hamburg. Bis zum 27.2.2011)