Freitag, 31. Dezember 2010
doesn't indicate a cloudy journey
(Am. Proverb)
Viel wäre noch zu erzählen gewesen. Einreihen könnte ich mich in die Schlange derer, die Geschichten von der Bahn berichten. Andererseits: Ich kann dieses Gejammer nicht mehr hören! Zwei Stunden Verspätung! Herrje, möchte man rufen. Oder: laßt euch ein Leben schenken! Ich könnte Kunde tun von einer Fahrt in den heiligen Abend, dem Schein eines Kometen am Himmel folgend, und einer Verspätung von sechs Stunden. Man muß das aber in Relation setzen zur eigentlichen Fahrtzeit, die bei (gemäßigten) Temperaturen im Sommer auch schon vier Stunden dauert. Da sind zehn Stunden insgesamt nicht zu viel. Immerhin liegt Schnee. Und auch Eis. Vereinzelt war sogar von "Winter" die Rede. Und es kostet nicht mehr! Ich kenne jetzt alles: abgerissene Oberleitungen, vereiste Weichen, vereiste Bremsen, Bahnhöfe ohne Wartesäle, den Nahverkehr und seine Möglichkeiten in und um Münster, Hamm und Dortmund, HBF. Orte, die auf -bögge enden wie in Ober-, Unter-, West- und Nordbögge (oder ähnlich), Momente, in denen verzweifelte Mütter ihre Säuglinge auf dem Vierertisch eines Großraumwagens wickeln, den weihnachtlichen Geruch von Ochs und Esel, der sich in der Folge entwickelt, den angestrengten Blick hinaus ins eisvernebelte Dämmerlicht, nachschauend, ob es nun -bögge oder Bethlehem heißt, das sportliche Cheer up! einer zufälligen Notgemeinschaft, die letzten lauwarmen Tropfen aus der Thermoskanne.
Darüber lohnt kaum ein Wort. Es war ja nur die Hinfahrt. Die Rückfahrt dauerte ebenfalls zehn Stunden, ließ mich die halbe Nacht auf dem Dortmunder Hauptbahnhof verbringen oder besser in dem in einen Container untergebrachten McDonalds, die Taschen gefüllt mit Verzehrgutscheinen, der Güte eines landesweit bekannten Verkehrsunternehmens zu verdanken, auf Anschlußzüge wartend, die irgendwie "aus dem Süden" kamen, aber von dort, wo "gar nichts mehr" ging. Ich kenne jetzt alles. Den tröstlichen Schein des Dortmunder "U"s bei Nacht, die Diskussion mit Bahnangestellten, ob Dortmund nun Champion's League sei oder nicht, das lustige Spiel "wir sagen Züge nach Mitternacht gleich gar nicht mehr an, behaupten aber das Gegenteil", das Gefühl der Ohnmacht vor sogenannten "Service Points", untergebracht in Containern, aus denen eine bullige Wärme lockt, während man selbst seine Füße schon lange nicht mehr spürt, das Miniatureisenbahngefühl, wenn Züge im Hauptbahnhof Hannover zweihundert Meter in die eine Richtung fahren, bloß um wieder zurückzusetzen (Portemonnaie vergessen vielleicht oder eine Warnweste), um dann in die ganz andere Richtung nach Hamburg zu fahren, gegen zwei Uhr morgens von Zugchefs belehrt zu werden, daß man ja "nur aus Kulanz überhaupt mitgenommen" würde, den Geruch vollgestopfter Abteile in einem Nightliner, den Wunsch, einfach bis Kopenhagen durchzufahren, auf Kulanz natürlich, sich gegen sechs Uhr morgens auf dem Hamburger Hauptbahnhof ausgespuckt zu fühlen, nur um zu sehen, daß die U-Bahn gerade vor der Nase wegfährt. Aber dafür nur ein müdes Lächeln.
Auf dieser nicht kleinen Odyssee durch deutsche Weihnachstnächte habe ich viele Menschen kennengelernt. Gefaßte, aufgelöste, entspannte, verbissene. Zugbegleiter von großer Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Augenmaß, andere, die vielleicht in einem Job am Hamburger Hafen, wo man nur Container umlädt, glücklicher wären. Ich sage das mal ganz kulant. Familiengeschichten habe ich gehört, manche freiwillig, manche, das Mobiltelefon macht Zeugenschaft möglich, auch unfreiwillig. Ich habe eine Entwicklungshelferin kennengelernt, die in Haiti arbeitet, und mit einer anderen Frau, die wie ich gestrandet war, ihren Geburtstag im Gastraum des McDonalds am Dortmunder Hauptbahnhof begangen, der eine Anmutung zwischen türkischem Kulturcafé und Abfertigungshalle Tallinn besitzt (wobei, ich kenne Tallinn gar nicht und tue der Stadt vielleicht Unrecht). Grelles Licht, Plastikstühle um Resopaltische, sonst nichts. Am Ende kam raus, sie arbeitet im selben Winkel des Schaugeschäfts wie ich, nur auf der anderen Seite des Werktisches, also ließen wir noch Namen tropfen wie Eiswasser in den Schnee, sagten ha! oder auch mal haha! - bis die Nacht rum war und Weihnachten und das Gefühl von zwanzig Jahre Interrail.
Wie jung man also plötzlich wieder wird. Nächte am Dortmunder Hauptbahnhof zum Beispiel, wenn man nach der "Disco" (wie das damals noch hieß) in dieser neonlichternen Trümmerstimmung mit anderen Zertanzten auf die erste S-Bahn wartete. Wenn man die jungen Leute heute dort beobachtet, junge Mädchen, die 15-Zentimeter-hoch durch den Schnee staksen, Grüppchen, die von hier nach da ziehen, in unsichtbar gelenkten Schüben, merkt man, es hat sich nichts verändert. Wir sind nur die anderen.
Nächste Runde also. Am Himmel über den östlichen Stadtteilen kann ich bereits die Ziellinie sehen. Erste Raketen klären die Luft und künden: 2011 wird bunt.
Achtet darauf, was Silvester passiert. Goldene Regel: Feiert nur mit Menschen, die auch um Mitternacht mit euch anstoßen wollen. Ich fahr jetzt mit der Bahn in die Nacht und kehre erst nächstes Jahr zurück. Ich hab da jetzt Bock drauf. Einen guten Rutsch.