Montag, 29. November 2010
Mein Bruder und ich wurden bekanntlich bei der Geburt getrennt und wuchsen 20 Jahre versetzt voneinander auf. Da ich aber gut ein halbes Jahr jünger aussehe als ich wirklich bin, fällt das auf den ersten Blick nicht weiter auf. Und doch ist dieser Generationensprung ein wertvolles Korrektiv, zeigt es mir, daß manchen Namen, Farben und Ereignissen, die ich für völlig präsent halte, offenbar etwas gestriges anhaftet.
Hamburg hingegen ist für meinen volljährig gewordenen Bruder und seine frischgetraute Braut neu, und die Hansestadt, die in der Nacht endlich ihre Spagat-Koalition abschafft, zeigt sich glücklicherweise auch darüber hinaus von einer entspannten Bandbreite. Das Wetter spielt Bayrischer Wald, Winterausgabe: Schnee auf Baumwipfeln, ein zugeeister Kanal vor dem Fenster, vernebelte Fernsicht und all überall vermummelte Gestalten, während die Ungläubigen aus dem Bergischen Land behaupten, aus mediterraner Milde angereist zu sein und meine Warnungen ignoriert zu haben. Sie müssen sich meinen selbstkomponierten Schlager "Auf St. Pauli darfst du eine blöde Mütze tragen" anhören und werden dann ohne weitere trockene Bemerkungen erst einmal mit Hut und Handschuhen ausgestattet. Touristen.
Zur Abhärtung schleppe ich sie überall mit rum, halte Vorträge über das hanseatisch-portugiesische Erbe, die Bedeutung der finnischen Seemannsmissionen für die Rettung der Weihnachtsmärkte und weitere, weitgehend frei erfunde Themen. Wir kreuzen die Elbe, werfen einen Blick auf das Disney-Schiff, lassen uns in einem Kaufhaus von einem Verkäufer schmunzelnd versichern, es handele sich dort um "teure Angebote" und entdecken einen neuen Laden im ehemalig alternativen Viertel. Ich plausche unverfänglich entspannt mit der Besitzerin, bis diese unvermittelt und ein wenig zu betont einen Satz mit "also, mein Mann und ich..." beginnt. Also bitte, meine ich später auf der Straße, das mit dem Augenzwinkern muß ich noch dosieren lernen, und mein Bruder ergänzt dazu sehr trocken etwas, was sich gut in einer Satiresendung machen würde.
Das Hauptthema bleibt die Frage, ob man dieses Astra wirklich trinken könne. Da man in unserer Familie die Dinge gerne selbst überprüft, gehen wir zum Flaschenzählen und Vergleichstrinken auf den Kiez, ich muß dem jungen Paar ein paar Läden zeigen, in dem man sich mit müden Beine bequem unter dem Tisch ausschlafen kann, den Kopf auf einen Plüschhocker gelehnt. Kometen-Grind'n'Soul also, dem Hausherrn folgen wir ins Queen Calavera, wo ein Teil der Harbour Pearls Shake'n'Shimmy Ausziehtanz zeigt, und folgen wie die heiligen drei Könige dem Leuchtsignal und der ausgelegten Tiki-Wiki-Spur durch den geheimen Tunnel hinüber zu den Autoschrauber-Rock'n'Rollern gleich neben diesem sehr lauten Laden und weiter über die Hasenschaukel zu einem wagemutigen Finale auf der Ballermannmeile. Und zwar genau so.
Unterwegs versuche ich La Reimann, der ich zufällig begegne, damit zu beeindrucken, daß ich ja das tolle Buch über den Ratinger Hof besitze, was sie ganz trocken damit kontert, eine der Geschichten darin geschrieben zu haben. Zerknirscht muß ich hier und an dieser Stelle einer erweiterten Öffentlichkeit gegenüber zugeben: Ich bin bislang nur dazu gekommen, ein wenig oberflächlich in dieser tollen Edition zu blättern, möchte aber trotzdem sagen: Das gehört unter jeden vernünftig dekorierten Weihnachtsbaum!
Tief in der Nacht zeigt St. Pauli erneut seine große Aufrichtigkeit, als uns an der U-Bahn ein Typ anspricht, der Flyer für ein Tattoo-Studio verteilen will. Ob wir eins hätten, wünschten oder ändern wollten? fängt er seinen einstudierten Spruch an, um dann nach einer Gedankensekunde zu enden: "Ist doch auch irgendwie scheiße jetzt, um diese Zeit." Und zieht weiter, ehe wir im Chor eine trockene Antwort formulieren können und macht Faxen mit seinen Flyern, die Herbstblättern gleich um netzbestrumpfte junge Damen segeln, die auf dem Bahnsteig stehen und dem Winter trotzen, die uns einhüllen in eine tintenbedruckte Wolke, während irgendwo Musik spielt, während du an einem anderen Ort bist.
>>> Geräusch des Tages: Link Wray, Rumble