Mittwoch, 9. Januar 2008
Ist nicht morgen, sondern grade eben.
(Bernadette La Hengst, "Der beste Augenblick".)
Mein langjährigster Freund ist ein halbes Jahr jünger als ich, und weil unsere Mütter von Anfang an ihre Kinderwagen Seite an Seite um den Ententeich geschoben haben, kennen wir uns nicht nur ein berühmtes halbes Leben lang, sondern tatsächlich ein ganzes. Wir waren gemeinsam im Kindergarten, haben nachmittags die Western vom Sonntag nachgespielt, später auch mal Feuer gelegt und uns die Nasen blutig gehauen, erste Zigarettten gedreht, uns gestritten und wieder vertragen. Wir wohnten in derselben Straße, zwei Häuser auseinander, und verloren uns dann doch ein wenig aus den Augen, weil eine unterschiedliche Schulkarriere unsere Interessen auseinanderführte. Der Kontakt brach dennoch nicht ab, wir trugen erst seinen Vater und später meine Katze zu Grabe, tranken einen Schnaps sowohl auf den einen als auch auf den anderen, und am Ende half er mir, meine 30 Kartons in einem Kleinlaster nach Hamburg zu bringen.
Der Kontakt ist immer noch lose, und oft ist es meine Mutter, die Nachrichten und Grüße von hier nach da trägt und uns gegenseitig auf dem Laufenden hält, bis auf die Dinge, die sie besser nicht weiß. Jetzt telefonierten wir zum neuen Jahr und hielten Bilanz. Was war, was geschah, was uns wirklich bewegt. Irgendwann fiel das Wort Midlife-Krise, wir redeten über Frauen (Kummer), Kinder (keine) und kleine rote Sportwagen (komisch) und das, was das Leben noch bieten wird. Das Heute wird mir wichtiger als das Morgen, sagt er, und ich wußte nicht, wie ich ihm widersprechen sollte. Ich erwähne meinen kleinen Unfall im letzten Jahr und wie ich im Krankenhaus lag und nachdenklich wurde. Und wie das Nachdenken stärker wurde, mehr Raum einnahm und sich ausbreitete, wie eine Wasserlache, die in alle Ritzen und Windungen dringt. Überall dorthin, wo plötzlich Leerräume sind. Was bleibt, ist die Frage. Und wer? "Man will ja nicht alleine sein", sagt er und erzählt mir, wie er fast zur selben Zeit im Sommer einen Unfall mit dem Motorrad hatte. Wie ihn seine gebrochene Schulter zurückwarf, auf ihn selbst natürlich auch und auf die Gedanken, die dann kommen.
Man merkt, sage ich, daß es nicht endlos nur noch vorne geht, egal, was nun kommt. Daß es nicht bloß mehr um Neugierde und Abenteuer und das Neue geht, sondern um Beständigkeit und Verläßlichkeit und um das, was jetzt ist. Um das, was bleibt. Und wer.
Er erzählt von einem Kollegen, dessen alten Arbeitsraum er nun als Lager benutzt. Der Mann galt als aufopferungsvoll, ein Workaholic, immer für die nächsten Projekte und die Firma da. Nicht wegzudenken. Eines Tages war er tot, fiel einfach um, im besten Alter, wie man so sagt. Seine Stelle wurde nicht neu besetzt, sein Arbeitsraum blieb, wie er war. "Ich sollte alles entrümpeln", erzählt mein Freund. Und hielt am Ende zwei Kartons in den Händen, darunter Fotos vom Schreibtisch und geschäftliche Briefe, die der Kollege nicht mehr geöffnet hatte. Die Bilanz von 30 Jahren, zwei verstaubte Kartons, Strandgut eines ganzen Lebens. Tja, sage ich. Meins paßt auf eine CD.