Dienstag, 12. Juni 2007


Vom Grunde meiner Augen

A G P H E




Der Besuch bei meinem Augenarzt ist mir ein jährliches Ritual, dessen Liturgie einer Taufe gleicht. Ich betrete ein abgedunkeltes Wartezimmer, in dem merkwürdige Gestalten sitzen mit allerhand optischem Gerät im Gesicht, Brillen mit verstellbaren Schrauben, mit Mull verbundene Augen, unter denen langsam eine gelbliche Flüssigkeit sickert. Ringsherum stehen Kartons, postfertig verpackt. Brillen für Afrika? Exzisierte Augäpfel? Auch scheint mein Arzt altes Gerät zu sammeln, neben abgerundeten 60er-Jahre-Arztschränken aus Metall steht allerhand technisches Gewerk, dessen wahre Bedeutung zu ergründen mir das ophtalmologische Wissen fehlt.

Dann heißt es schauen, Augen abdecken und auf eine gegenüberliegende Wand starren. Mein Vater erzählte neulich begeistert von seiner computergesteuerten Sehkraftvermessung - Zeichen und Schriften in die Luft projiziert, dreidimensionale Modelle, die zucken und leuchten und sich rotierend um den Kopf bewegen.
Mein Augenarzt ist anders. An der Wand rate ich Zahlen, 6 oder 8 in Vier-Punkt-Schrift. Dann soll ich lesen, die Assistentin hält mir eine vergilbte Textschablone hin: Vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die golden scheinende Prairie und beschlossen, ein Lagerfeuer zu errichten, ehe die Nacht...


Am Ende ist es mir ein Schwindel. Mit abnorm geweiteten Pupillen, die Augen aufgerissen, ein kulleräugiges junges Reh, trete ich hinaus auf die Straße. Gleißendes Licht blendet mich, Schmerz fährt wie ein silbernes Messser in meine Augen. Neugeboren, aber blind. Ein torkelnder Großpupillenmann (ein Wachmann schüttelt den Kopf), für einen Moment sehe ich die sonst unsichtbaren Dämonen der Städte, quallenartige Geister, die sich an langen Fäden durch die Straßen hangeln. Mein Schädel pocht, ich flüchte mich hinab in die U-Bahn, angenehme Kühle empfängt mich und angenehmere Dunkelheit auch. Aus der Tunnelröhre flackert ein Licht, ein leises Rumpeln walzt sich näher heran. Auf dem Bahnsteig eine merkwürdige Szene, ein fantastischer Tanz.

Was blieb, ist die Erinnerung: Vor Einbruch der Dunkelheit erreichten wir die golden scheinende Prairie und beschlossen, ein Lagerfeuer zu errichten, ehe die Nacht...



>>> Webseite von Lisa Bufano | Interview mit Vera Little |

Vera Little im Hermetischen Café.
(Die Links dort sind leider nicht mehr aktiv.)