Freitag, 1. Dezember 2006
Derzeit ist in der Hamburger Kunsthalle die Sammlung des Schweizers Uli Sigg (steht der eigentlich mit dem Flaschenhersteller in Verbindung?) zu sehen: Chinesische Kunst der Gegenwart, verteilt über alle drei (bzw. vier) Etagen des Kubus der Moderne. Ich gebe zu, ich war zuerst skeptisch, ob mich sattgesehene Propagandakunst und verkopfte Dissidentenkritik vom Hocker hauen könnte. Zudem blockieren derzeit Horden von Museumstouristen und Rentnerbussen, die wegen Caspar David Friedrich im Klassikflügel angereist kommen, die Zugangswege. Aber neulich schlüpfte ich dann schnell "unter Tage" hinein und muß sagen, ich habe keine Minute bereut.
Es geht gleich gut los mit dem oben gezeigten Schreibtisch von Shin Irgendwas[1] (die ganzen Xangs und Wangs konnte ich mir unmöglich merken, meine chinesischen Leser mögen mir Banausen verzeihen, aber das ist alles Müller und Schmidt für mich). Klinisch, brutal und unglaublich schön. So stelle ich mir meinen Arbeitsplatz vor, es dürfte noch ein wenig Rost dran sein. Gemeinsam mit der überaus interessierten Saalwächterin untersuchte ich Details des Werkes, wurde auf Schrauben und Dornen hingewiesen, die meinem Blick zuvor verborgen geblieben waren. Von der Flachbildschirmguillotine über den Eiserne-Jungfrau-Stuhl (oder doch Akupunktur?) bis zu den Fingerschrauben in der Tastatur - ein durchdachtes Stück moderner Arbeitsverhältnisse.
In diesem Stil geht es weiter: Porträts, die an Otto Dix erinnern, süffisante Kommentare zum Mao-Kult - es wundert nicht, daß die meisten Künstler im Exil leben. Überrascht war ich über viele scheinbar weniger politische Arbeiten, solche, die körperliche Transgressionen und Sexualität in den Vordergrund stellten. Aus westlich zentriertem Blickwinkel vermutete man wohl, daß da welche ihre "Hausaufgaben" gemacht haben - die zahlreichen "Kopien" und Parodien von und auf westliche Kunstklassiker sprechen da auch eine beredte Sprache. Authentischer wirken für den westlichen Betrachter sowieso die bedrückenden Auseinandersetzungen mit den Mythen der Antike und der chinesischen Alltagskultur. Individuum versus Masse, die Folgen der sozialen Gleichschaltung und der Ein-Kind-Politik schließen auf eine gewisse spiegelbildliche Art wieder an die Werke zu Beginn der Ausstellung an: optimistisch strahlende Propagandagemälde, Helden der Arbeit und des Volkes, die mit ihrem sozialen Idyll und der naiven Gestaltung für den heutigen Betrachter voller Ironie stecken - wären sie nicht so brutal ernst gemeint.
Ganz unten im Kellergeschoß bitte eine tolle Videoinstallation nicht verpassen. Dort wird - in einer sehr nüchterner Reprise von George Franjus ungemein poetischem Film Le Sang des Bêtes ("Das Blut der Tiere", 1949) - die Produktion eines gängigen billigen Lederetuis gezeigt. Vom Schlachten der Kühe bis zur industriellen Weiterverarbeitung des Leders. Bitte Platz und Anteil nehmen.
(Mahjong noch bis zum 18. Februar 2007 in der Hamburger Kunsthalle)