Dienstag, 6. Juni 2006
und den Rest der Szene.
Urcool diese Location,
quasi im öffentlichen Raum.
(Otto Europa, "Knietief im Zitronengras")
Als ich am Samstag das erste Mal im neuen Berliner Hauptbahnhof einlief, habe ich fast geheult. Einige werden jetzt sagen, Herr Kid, fast geheult, das ist doch aber nichts Neues, der heult und jammert doch ständig. Aber erstens stimmt das in letzter Zeit gar nicht mehr so, und zweitens war der Anlaß ernst. Denn der Berliner Hauptbahnhof ist schlichtweg eine Katastrophe.
Wo jeder Reeder in Hamburg seine großen Schiffe stolz an den Kais präsentiert, versteckt Die Bahn AG i.G. ihre Flotte verschämt im Tiefgeschoss. So wie saturierte Vorstädter, denen plötzlich einfällt, Ach ja, ein Fahrrad habe ich ja auch noch im Keller. Das könnte ich eigentlich wieder flottmachen, das Wetter ist so schön. Wenn man dann im Keller aus dem ICE steigt, zieht man unwillkürlich den Kopf ein, so niedrig wirken die Decken. Auch meint man, nicht in einem Bahnhof, Verzeihung: Hauptbahnhof gelandet zu sein, sondern in einem Lebensmittelmarkt auf der grünen Wiese. Wände, die aussehen wie perforierte Rigipselemente, verleihen den Charme des örtlichen Aldimarktes, aber nicht die pompöse Grandezza (um dieses Wort mal aufzugreifen), die ich mir vom Hauptbahnhof der Hauptstadt erwarte.
Das Architekturbüro gmp hatte bekanntlich eine ganz andere Vision vor Augen: eine gothisch anmutende Kuppel aus Glas und Leuchtern. Herausgekommen ist der betongewordene Kleinmut, der so symptomatisch ist für diese Republik: Klotzen wollen, aber nur kleine Würfel produzieren. Für 500 Millionen Euro den Großkotz spielen, aber dann eine graue Betondecke einhängen, wo man Licht und Weite - Perspektive eben - erwartet hätte.
So erlebt man, egal an welcher Stelle man sich befindet, ein verschachteltes Etwas, bei dem alle Sichtachsen unterbrochen werden durch quergezogene Ebenen, Pfeiler, Säulen oder runde Aufzüge. Jegliches Gefühl von Weite wird durch Betonrampen der mittleren Ebene versperrt, für diese immense Horizontale des Baus fehlt definitiv die Vertikale, wie sie Bahnhöfe in Köln, Frankfurt oder sogar Hamburg bieten. Einzig an manchen Stellen gibt es das Gefühl von Tiefe. Ich vermute aber, sobald die ersten Selbstmörder die Fallwucht im neuen Bahnhof getestet haben, werden auch noch Netze eingezogen, die die letzte Anmutung von Weite ins Kleinkarierte zurren.
Das mögen am Ende jedoch ästhetische Befindlichkeiten bleiben, über die nur unvernünftige Menschen endlos streiten. Zum Glück. Was aber endgültig ärgert, ist die Verfehlung dieses Bauwerks als funktionaler Ort. Es ist offenbar ein Politikerbahnhof, an dem die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter mit einem Attachéköfferchen bewaffnet aus dem ICE steigen und gemütlich die 400 Meter zum Reichstag zurücklegen können. Für jeden echten Reisenden mit richtigem Gepäck, wird dieser Bahnhof zum Purgatorium. Wenn 200 Menschen auf einmal den ICE verlassen, sich mit Koffern, Plunder, Bahncard und quengelnden Kindern die engen Rolltreppen hochquälen, dürfen sie sich durch die Shopping-Touristen manövrieren, die in der mittleren Ebene Restaurants und Boutiquen besichtigen und ansonsten bräsig im Weg stehen, nur um auf der dritten Etage endlich die S-Bahn zur Weiterfahrt in die Stadt zu erreichen. Eine Ochsentour für Kunden, die das eigentliche Kerngeschäft der Bahn bedienen. Der Bahn-Comfort-Kunde sagt schon jetzt: Vielen Dank, Herr Mehdorn! Der Rest überlegt wohl schnell, auf einen Opel ein Auto umzusteigen.
Da mein Lieblingsheiliger Sisyphos heißt, ist mir das egal. Völlig gaga aber werde ich auf dem Bahnsteig. Wenn man (trotz bloß spärlicher An- und Abfahrtstafeln und sonstiger Beschilderung) sein Gleis gefunden hat, wird man von einer Stimme gequält, wie sie in den 70er und 80er Jahren auf Mittelwelle zu hören war. Damals funkten die östlichen Geheimdienste ihre Anweisungen in stundenlang monoton vorgetragenen Ziffern-Fünfergruppen an ihre Agenten: Zwo-Vier-Sieben-Neien-Drei. Mit dem Charme der computerisierten Zeitansage, werden nun die Zugansagen aus der Sprachdatenbank zusammengebastelt. Mehrsprachig piesacken einen fortan völlig falsch betonte Sätze, deren künstliche Intonation einen binnen kurzem in den Wahnsinn treibt.
Dies ist ein Bahnhof für Blade Runner, und die Replikanten, die sind schon lange unter uns.