Mittwoch, 3. Mai 2006
scharlachfarbenem Tier
die Wollstrümpfe hängen ihm über Bord.
Elend sieht der Mensch aus, gelbblaß,
die klaffenden Linien um den Mund,
die schrecklichen Querfalten über die Stirn.
Er holt sich noch eine Tasse Kaffee
und eine Limonade.
(Alfred Döblin. Berlin Alexanderplatz. 1929)
Auch schon zurück (auf Strümpfen) aus der großen Stadt. Das Biest empfing mich natürlich wie immer mit Regen, Kälte und Abweisung. Und schicksaltrotzenden Fußballfans. Erst sangen die Frankfurter "Zieht den Bayern die Lederhosen aus". Später am Abend sangen allerdings die Bayern "Mer ham noch da Lederhoasn an". Und immer rund um den Bahnhof Zoo. Die armen Kinder dort, was sollen die denken.
Dann aber 1. Mai, schnell ein Arbeiterlied gesungen unter der Dusche, an die jungen Menschen gedacht, die in Kreuzberg grillen und an die älteren, die zur selben Zeit im Internet surfen. (Heute in der FAZ gelesen: "Die komplementäre Redensarten der Industrie, ältere Arbeitnehmer könnten mit dem rasanten Wandel der Wissensgesellschaft nicht mehr Schritt halten, stammen im allgemeinen von Leuten, die älter als fünfzig sind, und sollten entsprechend eingeschätzt werden." - Jürgen Kaube)
Berlin tat dann ganz freundlich (drauf falle ich nicht mehr herein, eigentlich) und lüpfte die Wolkenröcke, um ein paar saftige Sonnenstrahlen kokett hervorzuschieben. Mir zur Freude. Also schnell raus, mich an die Hand begeben und leise und anteilnehmend mit Blogger-Tours ("Da beginnt der Spaß schon auf der Anfahrt") die heimlichen und unheimlichen Tränken und Absackstätten der A-List-Blogger-Schickeria angeschaut. Von "Laß uns mal schön nach Hause geh'n" über "Plüschmutti 3000" und "Mach meinem Kumpel ein Nest" hin zur "Gute Wohnstube", einen Kuchen essen. Überall zaghaft das Baumwollleinentäschchen aufs Trottoir gestellt, umständlich den Fotoapparat herausgewrungen und andächtig mir ein Bildnis gemacht. Zur ehrfurchtsblühenden Erinnerung.
Kuchen also bei "Hier wohnen wir, bis wir 30 39 sind". An den Nebentischen kann man Gesprächen lauschen und dabei wertvolle Tips für sich selbst destillieren. Da erzählt eine ihren zusehends (~hörends) stiller und ungläubiger werdenden Begleitern von dieser Geldanlage. Weil ja "alles nix bringt" und sie doch bald die Wohnung kaufen wolle, habe sie sich mal umgehört. Und dieser seriöse Typ, dieser Immobilienmakler (es gibt Menschen, für die wäre das schon ein Oxymoron), der hätte nun wiederum einen gekannt, Geschäftsmann und gut betucht, der brauchte schnell einen privaten Kredit. (Leider, leider sei der gute Mann nämlich nicht liquide, all sein vieles Geld so feste angelegt, mit Fischerdübeln verschraubt, daß er nun glatt acht Prozent bieten wolle.) Und während man noch denkt, gleich lacht sie laut und ihre Begleiter mit und sagt so was wie "netter Versuch", fährt sie mit unverrückter Miene fort. Bald nämlich bot man ihr sogar zehn Prozent, wenn das Geld nur sofort überbracht würde. Und "natürlich" hätte sie das gemacht, war ja alles ganz seriös und einen Zettel hätten sie auch aufgesetzt, also so einen Vertrag und ob denn - hier ein kurzer nervöser Blick zum Begleiter - private Darlehensgeschäfte hierzulande verboten wären?
Im stillen dachte ich, nun kürz' es schon ab, erzähle die Pointe und laß uns Mitleid schenken. Aber es folgte eine längliche erzählerische Odyssee über vergessene und verschlampte Rückgabetermine, geplatzte Überbringungsversuche, die allesamt plötzlichen Todesfällen in der Familie, Krankheiten oder Motorschäden anderer Art geschuldet waren. Und während bei mir Geduld und Kuchenstück immer kleiner wurden, wartete ich auf das Bekenntnis und die Einsicht, dieses Mein Gott, puta madre, die Kohle ist weg und ich ein Idiot!, und auch die Begleiter rutschten immer peinlicher berührt auf ihren schmalen Sitzen hin und her, starrten mal hierhin, wünschten sich bald dorthin und warteten mit offenem Mund auf das Ende der Geschichte.
"Ja", meinte die Frau. Es hätten sich wohl bald einzelne Unstimmigkeiten gezeigt, glatte Lügen auch, die den mantrisch wiederholten "Geld kommt Dienstag"-Formeln zusehends so etwas wie Glaubwürdigkeit absprachen. Sie hätte mittlerweile Nachforschungen angestellt (Mittlerweile! Nachforschungen! Auf eigene Faust!) und einen Hauch verspürt... Zweifel schlichen sich wohl ein. Jedenfalls, nun wurde eine Meinung erbeten, fragte sie sich, ob sie denn nun noch warten solle, vielleicht doch eine Frist setzen oder... oder einfach mal zur Polizei gehen? Oder, schlimm, lachten die sie am Ende nur aus?
Meine Begleitung, deren längst verdrehte Augen nur durch einen medizinischen Trick wieder anatomisch einigermaßen korrekt in die Höhlen zu bekommen waren, röchelte: "So redet nur eine, die dieses Geld nicht selbst verdient hat." Während ich noch überlegte, mir vielleicht selbst ein wenig Geld von dieser Frau zu leihen. Wenigstens für den Kuchen.