Freitag, 18. November 2005
Am Ende einer arbeitsreichen Woche und zu Beginn eines reduzierten (alle bitte: schluchz!) Wochenendes, ist der Bedarf nach einer kleinen Wohltat nahezu grundrechtsfähig. Seit gestern ist ja nun endlich mein Mund mit einem Implantat rückgefüllt - nun aber schmeckt mir Schokolade nicht mehr! Offenbar eine Kreuzreaktion auf das Ersatzmaterial. Warme Gefühle wollen in meiner Wohnung auch ansonsten nicht aufkommen, seit gestern abend, pünktlich zum Beginn der schneidigen Jahreszeit, die Heizung ausfiel. So kalt war es nicht mehr seit den seligen Zeiten im Pathologischen Institut des Barmer Klinikums (dear dead days!), in dem ich mir während des Studiums meinen (Achtung:) Lebensunterhalt verdiente.
So war es heute eine warme Freude, zufällig beim besinnungsleeren Stöbern im Medienregal eine verschollene Perle aus meinen 80er-Jahren herauszufingern. Damals nämlich gelang ich über krude und krumme, befreundete und nicht so befreundete Kanäle an die Kopie einer Kopie einer Kopie einer Kopie der gesammelten Werke des schrecklichen Kindes Richard Kern.
Über die USA, Köln und Solingen gelang das gesuchte Stück schließlich zu mir. Kern, einer der bekanntesten Vertreter des Cinema of Transgression, hatte in seinen jungen Jahren eifrigst die Super8 auf befreundete Künstler und Musiker aus der New Yorker Off-Szene (spell: Subkultur!) gehalten und einige amüsante, meist aber verstörende Kurzfilme inszeniert. Da wälzen sich Menschen wie Henry Rollins durch Blut und Schlamm und spielen Underground-Models wie Lung Leg mit Geckos, Knarren, Messern und allerlei Spielzeugen zur Erweiterung des sexuellen Horizonts - untermalt von Musik der Butthole Surfers oder Jim Foetus/James G. Thirlwell und Co.
Am heißesten klopfte mein Herz allerdings für eine andere ikonografische Szenegestalt, die in vielen Filmen von Richard Kern unbestrittener Star und Kollaborateurin war und von der ich beschlossen hatte, mich dereinst entjungfern zu lassen (ich konnte nicht so lange warten, sorry): Lydia Lunch.
Die zornige junge Frau war damals Star von berüchtigten Werken wie Fingered oder The Right Side of My Brain. Kern und Lunch hoben in ihren Filmen die verkommene Welt des "White Trash" auf die Leinwand - und wenn ein Zeigefinger erhoben wurde, dann zumeist nur, um diesen sogleich in die nächstgelegene natürliche oder auch unnatürliche Körperöffnung zu stecken. Moralisch verkommen, emotionsgestört, ohne Sinn, Verstand und höhere Ziele zeigt sich hier das düstere Zwillingsbild zu der mittlerweile recht mainstreamigen und burlesken Themenwelt eines John Waters.
Irgendwann fand ich heraus, daß Ms. Lunch mit bewußtseinserweiternden Substanzen experimentierte - von da an war natürlich Schluß mit unserer Liaison, die sie vielleicht auch ganz anders wahrgenommen hat als ich, wenn überhaupt. (Ich bin aber sicher, bei einigen Auftritten hier in Deutschland hat sie mich angesehen. Und einmal, da war es aber schon vorbei, hätte ich sie fast getroffen, aber sie hat mich versetzt, diese kleine Trailer-Trash-Schlampe! Muß ich noch mal in Ruhe erzählen.)
Jedenfalls hat auch Richard Kern seine interessantesten Tage hinter sich, macht jetzt eher wenig originelle Mädchen-Fotografie, hinterließ der Welt aber immerhin sein bizarres Œuvre, darunter auch einige Sonic-Youth-Videos wie das zu "Death Valley 69". Hardcore? Ach was. Rückblickend betrachtet bloß ein harmloser Spaß unter Freunden.
Sobald ich also das Eis von meinem DVD-Player abgekratzt habe, heißt es dieses Wochenende nur noch:
Pop-Art ist gemeinhin nicht so mein Ding. Knallig, flächig, häufig seriell - und selbstredend viel zu bunt - so kann mein herbstliches Herz nicht pochen. Der Luxemburger Michel Majerus (1967 - 2002) hat demnach kein Heimspiel auf meinem Aufmerksamkeitsradar. Sein Sampling von moderner "POP"-Ikonographie, so Robert Fleck von den Deichtorhallen auf der Vernissage, mag neue Technologien nutzen, digital genährt und dann doch gemalt sein - eine "Überführung der Malerei in ein neues Jahrhundert" drängt sich mir nicht als vordergründige Assoziation auf.
Vielleicht ist mir zu wenig Sex in diesen Bildern, vielleicht betont Fleck auch zu sehr die Momente des "Konstruierten" und des "Aufwendigen" der aktuellen Hängung. Geschenkt. Es ist groß, monumental (einzelne Werke erreichen 10 Meter Kantenlänge), bunt und oft genug ein Schlag ins Gesicht. Doch der Supermarkt visueller Codes ist mir spontan zu sehr mit dem Kopf und zu wenig mit Bauch, Herz und Lenden entworfen. Malerei, die nicht den Akt des Malens repräsentiert, sondern eine reflektierte Welt, die selbst schon hohl ist. Platt und zweidimensional. Dritte Hand.
Aber dann: Muß man diese Bilder sehen und davorstehen, klein nämlich, kleiner als die niedliche Katze und die großen Augen. Dort, in der Rezeption, liegt die eigentliche sinnliche Erfahrung dieser Bilder. Kleingemacht, demütig unter den schäbigen Resten billiger Klebebildchen-Ästhetik, wie ein Wurm im Angesicht des Brillo-Boxen-Turms - entfaltet die ZEICHEN-Kunst ihre Kraft. Erdrückt von Ikonen und Versatzbildern wie Titeln von The Face oder Postern von Marilyn Manson mag man den täglichen Beschuß mit Pixeln, Infografiken, Werbung und Kunstzitaten , die Dialektik aus Fassade und Sein körperlich nah erfahren. Nur neu, neu finde ich das alles nicht. Man muß nur einen Gang durchs Museum Ludwig in Köln unternehmen, um zwischen warholisch-rauschenberg'schen Lichtensteinen und dem vostellpaik'schen Fluxus-Zirkus ganz ähnliche Ansätze zu finden.
Michel Majerus kam 2002 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Bilder jedoch sind überlebensgroß.
(Michael Majerus - demand the best, don't accept excuses.
Hamburg, Deichtorhallen - 18.11.2005 - 26.1.2006)