Dienstag, 26. Oktober 2004
In den 70er Jahren konnte man in Nordrhein-Westfalen eigentlich nur einen Sender hören: BFBS, den Service der britischen Rhine-Army. Anders als der verschnarchte WDR, der über Mal Sondocks "Hitparade" nicht hinauskam, gab es bei den Briten cooles Top-40-Zeugs und garantiert keine deutschen Schlager. (Leider quasselten die Moderatoren immer in die Enden der Songs, so daß man zum Mitschneiden doch wieder auf Mal Sondock ausweichen mußte.)
Die Tatsache, daß es eben auch nur Top-40-Sachen waren, störte nicht, denn man kannte ja nichts anderes. Bis, ja bis auf jenen Abend als ich BFBS einschaltete, merkwürdig grummelnde Takte Musik hörte und dann diese Stimme, die man nie vergißt:
"Hello, my name is John Peel - and this is some of my music."
Und man sagt das so leicht und vor allem im Nachhinein, aber ich habe es damals sofort gespürt: Hier ändert sich gerade mein Leben. Zum ersten Mal hörte ich Musik, die mich wirklich elektrisierte, die unheimlich war und irgendwie gewalttätig und melancholisch und verzweifelt. Kurz, es war Musik wie ich selber war.
Es dauerte ein paar Tage - und dann noch ungläubige Wochen - bis ich kapierte, daß hier nicht Poltergeister aus meinem Weltempfänger lärmten, daß das ganze kein Versehen war. John Peel kam wieder, Woche um Woche.
Ich hörte Siouxsie, Buzzcocks, Wire, Joy Division, The "mighty" Fall, die Bunnymen und ab und an The Cure. Bekanntes wie die Slits, Cocteau Twins oder später dann die Smiths. Aber auch eher Obskureres wie Ausgang, X-Mal Deutschland oder They Might Be Giants. Später auch Farm Life, Jesus and Mary Chain und die Primitives. Viel Reggae auch und Dance-Hall-Dub und immer laut. Dazwischen erzählte John Peel von den Musikern, die er traf, den Fans, die ihm schrieben, von Sheila und den Kindern, von Reisen nach Jamaica, he got carried away, aber dann merkte er es, unterbrach sich, anyway, here comes... und weiter ging es weiter mit Hits und Misses.
Wochen um Wochen füllte ich billige Ferro-Kassetten aus der Kaufhalle (Stück 1,25 Mark), die schon nach zwei, drei Monaten dumpf wurden. Woche um Woche war John Peel's Music Gesprächsthema auf dem Schulhof; man diskutierte die Trends, die Songs und Bands, die er spielte, wunderte sich über die, die er nicht oder nicht mehr spielte.
Später, als die zeitgenössische Musik sich erneut in Experimente und Belanglosigkeiten, Tanz und Lustigsein vertändelte, verlor Peels Sendung auf BBC 1 für mich seinen Reiz. Techno und D'n'B gab es auch überall sonst. Für nostalgische Menschen gab es andere Geschenke: Die berühmten Sessions aus dem BBC-Studio erschienen auf EPs und LPs und später auf CD. John Peel als der George Martin der späten 70er und frühen 80er Jahre.
Ein tätiger Mensch - und immer ein Forscher, der auch als "Rock-Opa" viel Gespür für junge Bands und neue Trends besaß. Heute führte ich ein Telefongespräch, in dem ich viel von mir erklären mußte. Bei John Peel fühlte man sich immer verstanden.
Dafür Danke.
She lives in the TV sky
She lives in such pain
She rides in a bulletproof
Stretch limousine
(Neil Young, "Slip Away".)
"Dieser Satz ist falsch." Das ist so ein philosophisches Rätsel. "Alle Kreter lügen", man kennt das. Sagt ein Kreter. Wie also dieses Paradox auflösen?
Ich kann keine Philosophie. Ich habe einiges von Nietzsche gelesen. Einiges von Kant. Als ich auf der Uni war, interessierte ich mich für ein paar dieser Postmodernen. Über Roland Barthes kam ich zu Baudrillard, Derrida, Deuleuze, Guattari, Virilio. Kittler auch. Damals, abgeschieden auf Waltons Mountain hielt ich mich für einen brillanten Kopf, der an eine semiotische Tür klopfte, zu der er keinen Schlüssel besaß. Damals war Verstehen sehr einfach. Man mußte nur eine elektrische Gitarre vor den Lautsprecher eines Verstärkers stellen. Im Feedback der wimmernden Membranen verstand man erst den Skeptizismus von Virilio und landete zwischen E-Dur und a-Moll bei Deleuze.
Wenn man ein Zeitungsfoto mit Nitrolösung überstrich und als Frottage auf ein anderes Papier übertrug, kam man Baudrillard sehr nahe. Manchmal fühlte ich mich als mein eigenes Simulacrum. Und ein kurzer oder besser noch längerer Blick in die Augen eines schönen Mädchens, das im Begriff war, einen unter den Tresen zu trinken, genügte, um selbst zu einem Mythos des Alltags zu werden.
Als der selbstgewisse Rausch der Jugendlichkeit verflog, wurden die Ränder unschärfer. Eine Zeitlang half mir meine schwarze Intello-Hornbrille von Mikli, die ich alsbald benötigte. Nietzscheanische Selbstgewißheit gegen die Kleine Leute Moralität ("Das ist die ekelhafteste Entartung, welche die Cultur bisher aufzuweisen hat" - Über die Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne.) verflüchtigte sich, je mehr ich selbst zum kleinen Mann wurde.
Was war schon wahr, Derrida?
Im Haus der Lüge (Neubauten), der beständigen Interpretation von dem, an das sich andere als wahr klammern mochten, richtete ich mir bald ein Zimmer ein. Sollten andere sich Häuser, Yachten, Pferde und Pferdepflegerinnen erschaffen; ich - in der Hälfte des Lebens - wollte im selbsterrichteten Tübinger Turm eine Hölderin'sche Heimstatt finden. Zeit für morbide Sehnsüchte also.
Vitalisten, Sadisten, Antichristen, Bataillisten - das modische dunklere Ende einer Pubertät ohne LSD-Visionen. Jahrtausendwende und die Hoffnung auf ein eigenes fin de siècle. Aber statt mit Pitigrillis Kokain schmissen die Geliebten im vierten Stock nur mit aufgetragenen Gelüsten um sich. Erstarrtes Bücherleben wird zum Kitsch. Katholischer Mystizismus als Gelsenkirchener Barock im spinnwebumhangenen Herrgottswinkel. Aber den Meister Eckhard konnte ich nicht gut genug rezitieren.
Überhaupt gebrach es mir zusehends an ausschweifendem Interesse. Man schafft es im Leben immer nur bis an diese oder jene Tür. Innerhalb dieses Feldes sollte doch ein Garten abzustecken sein. Man muß doch nicht sein verrücktes Pferd auf eine Prärie treiben, deren Weite man nie gewachsen sein wird.
"Ich als Hörender, zumal wenn ich ein Solipsist bin, bestimme, ob das, was ich beim Hören imaginiere, eine sinnvolle Aussage oder nur ein mir spaßmachendes Geräusch ist." (Steffen Dietzsch. Kleine Kulturgeschichte der Lüge. 1998.)
Mein Problem ist einfach: Alles was Du gesagt hast, ist wahr.