Donnerstag, 14. Oktober 2004
Da gibt es dann eine Party, auf der viele Leute eingeladen sind. Leute wie du und ich, Prominente und Semi-Prominente. Fast könnte man von einem öffentlichen Ereignis reden.
Da sich die meisten schon länger kennen, reden sich viele mit ihren Spitznamen an. Alle fühlen sich wohl, man plaudert über dieses und jenes, Sex, Liebe und Verkehrsprobleme.
Wie meistens ist jedoch einer unter den Gästen, den man zur Kategorie der Wichtigtuer zählen muß. Weil er zu den Themen nichts beisteuern kann, wählt er sich ein eigenes. Ihn stören die Spitznamen. Wer soll das sein, "Minze" oder "Baby" oder "Ratte"? Am liebsten würde er den Umstehenden die Personalpapiere aus der Tasche zerren, aber da hat er den einen schon erkannt. Er zieht eine Zeitung aus der Tasche - und richtig: Der da auf dem Foto abgebildet ist, heißt doch gar nicht "Ey, du Schauspieler", sondern Peter Panter und ist Leiter der örtlichen Selbsthilfegruppe der Anonymen Außenseiter.
Mit vor Triumph verzerrtem Gesicht und hochrotem Kopf springt er auf. "Ihr Minzes! Ihr Babys, Rattes und Rumpelstilzchen! Was soll das? Weiß doch jeder, daß Ey, du Schauspieler in Wahrheit Peter Panter heißt. Pöser Pube, der!" Beifallheischend schaut er sich um, doch die Menge guckt irritiert. (War was im Geburtstagssekt?)
"Na hier", ruft unser Mann und hält jedem das Foto aus der Zeitung unter die Nase, auf dem auch eine Frau abgebildet ist, die ebenfalls auf der Party anwesend ist. Die Menge wird unruhig. "Arschloch", zischelt einer. "Schlechte Kinderstube", ein anderer. Die Leute weichen leicht angewidert zurück.
"Ja, aber ist doch alles dokumentiert. Kann doch jeder nachlesen, daß das Peter Panter ist." Der Mann versteht die Welt nicht mehr. Spitznamen. So ein Quatsch! Was wahr ist, muß doch auch wahr bleiben. Will ihm denn keiner beipflichten? "Ja", bescheidet ihm einer. "Aber nicht alles muß gleich an die Öffentlichkeit. Hier wird auch keiner rausposaunen, ob du bekennender Thunfischesser bist oder nicht, wenn du es nicht selber tust. Selbst wenn das vielleicht kein wirkliches Geheimnis ist. Es interessiert im Moment einfach nicht."
"Außerdem", meint ein anderer, "bist du hier nur Gast. Es gehört sich eigentlich, daß man die anderen Gäste respektiert. Wenn die Gastgeberin nichts gegen Spitznamen hat, geht es dich nichts an. Das ist ja eine Frage des guten Benehmens."
Die Gastgeberin, weltläufig, charmant, läßt den aufgeregten Kämpfer der Selbstgerechtigkeit geschickt abblitzen. Jemand rettet geistesgegenwärtig die Situation und erklärt das Büffet für eröffnet. Mit großem "Ah" und "Oh" strömt die Menge davon.
Der wackere Ritter der großen Wahrheit ist geknickt. Er schleicht sich in die nächste Kneipe und erzählt dort von seiner Geschichte. "Wenn das wenigstens Schriftsteller wären, die Pseudonyme verwenden. Ja dann!"
Na ja, sagt einer. Mich kennt man hier auch nur als "Wolle".
Doch noch eine Niederlage verkraftet der geschlagene Held nicht. "Das", heuchelt er, "das ist ok. Das ist ja nur eine Kurzform." Er braucht jetzt Verständnis.
Er schmeißt eine Lokalrunde, den von nun an muß er sich Zuneigung erkaufen. Er spürt das. Es ist kalt auf dem Berg, auf dem der Rufer der selbsternannten Wahrheit sitzt.
Da gibt es nichts zu lachen. Das ist weit verbreitet.
Zum Glück habe ich einen dicken Riegel an der Tür.
I wake up everyday, the wrong side of the bed
I won't lay down on the floor like I'm the whore in your head
Call me a failure, pretender, sex offender, infector
Say I killed all my friends, and I deserve to be dead
Kiss, baby, kiss - Bang, baby bang - Suck, baby, suck...
This isn't music, and we're not a band
We're five middle fingers on a motherfucking hand.
(Marilyn Manson, "Vodevil")
Manchmal, wenn ich mir ganz gepflegt einen mit meinem alkoholfreien Pastis angehängt oder stundenlang vergeblich über CSS-Definitionen gebrütet habe, werde ich zum wilden Mann. "Einen wilden Mann kann man nicht halten", sang Bernadette La Hengst einmal. Da hat sie recht. Ein wilder Mann, der muß mal raus. Am besten an die frische Luft, wie das früher hieß. Man kann aber nicht immer nur Revolution machen. Manchmal ist auch Pause.
Heute ist ja schon Revolution, wenn man im Stehen pinkelt. Deshalb ergötze ich mich gerne an diesen Bildern. Schaue ich mir stundenlang an. Kippe alkoholfreien Pastis oder kalten Kamillentee herunter und warte auf den großen Moment: "The only ones left standing/Are the ones not demanding".
Dann liest man völlig isoliert, herausgerissen und zuordnungsfrei vom Tod der Mutter und wundert sich. Oder denkt sich, na gut, "No concept of pain/No right to complain". In diesen merklich frostig gewordenen Nächten spüren wir alle mal den kalten Griff metallener Kliniktische. Man muß nicht alles verstehen.
Halt' mich einfach fest. Ich mach' nur kurz mal Pause.
Irgendwas war da neulich noch mit Ringelstrümpfen.
Aber mir schwirrt der Kopf.
Off with your head! schreit die böse Königin.
Nein. Erst noch die Verlockungen kosten. Drink me! Eat me! ruft es um mich herum.
(Via Hermenschauer)