Mittwoch, 13. Oktober 2004
Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,
Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,
Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt
Ein langer Güterzug sich schwer hinaus.
(Georg Heym, "Berlin III". 1910.)
Es fröstelt an den Spree-Kanälen. Irgendwo da draußen brach im Januar 1912 Georg Heym beim Versuch, seinen Freund Ernst Balcke zu retten, im Eis ein und ertrank.
Berlin kann sehr kalt sein, zärtlich vielleicht auch, aber immer bleibt es trügerisch. An der East-Side-Gallery überzieht der aufgekratzte Putz wie grindiger Schorf das alte Stückchen Mauer. Ost-West. In der ehemaligen Zone, dort also, wo es jetzt interessant ist, abseits vom an-sich-selbst-erstickten "X-Berg", entspannte Gespräche zu Berliner Bier und Prenzlauer Zigarettenqualm. Müßte man danach nicht wieder durch russische Frostwinde, via Nachstraßenbahnen und Schienenersatzbussen den Weg in andere Viertel suchen - man könnte ewig so sitzen und denken, laß den Vulkan doch alleine tanzen. Aber kluge schöne Frauen gehen früh zu Bett, und mein Hafen liegt sowieso in einer anderen Stadt.
Berlin habe ich nie so recht verstanden. Das ist Fakt. Ich habe mich bemüht, lange Jahre. Aber die empfindsame Vorgartenprovinz wurde immer wieder von Berliner Krawallpanzern überrannt.
Mädchen singen gellend
Musiker geigen
Irgendwo sitzt ein Soldat, der schläft.
Eine sagt: Miezeken, ick jehe mir einen Mann suchen!
Hüften hängen wie reife Trauben über die Kanten der Stühle.
Sadisten lechzen nach Hiebe
Junge Männer, Zuhälter
Mädchen, Amerikaner, Soldaten
Neger und eine 18jährige Kellnerin
(George Grosz, "Nachtcafé", ca. 1919.)
George Grosz ("Hoho! Berlin!! Von Portweinflaschen reizvoll überpinkelt!") hat es vortrefflich gemalt und dabei kaum übertrieben. Heute, oder sagen wir tagsüber, sieht man natürlich in erster Linie den Dreck, den Verfall. Endloses Tagging über Häuserfassaden, zerschundener Putz, dazwischen Glasscherben, asoziales Zerplatzenlassen, rachitische Kinder, bleiche Gesichter, die - Berlin ist günstiger als Hamburg - um 50 Cent betteln.
Berlin spricht nicht, Berlin deklamiert. Berlin will sich beweisen, möglichst laut, rauh und immer "Watten dette?" mit einer rabiaten Abwehr "da drinne". Manchmal möchte man den Finger in die feuchte Wunde legen, sachte, damit die Stadt sich wieder spürt. Und ganz sanft wird, und spricht, ganz ohne Megaphon.
Denn manchmal schiebe ich den Lärm zur Seite, weil ich weiß, daß Weißes Rauschen nur Redundanz bildet. Dann tauche ich durch diese Welle, laß Gerede, Gerede und Hetze, Hetze sein. Dann hör' ich es zirpen, das kleine verwundete Herz der Stadt. Berlin kann singen, wenn man es nur läßt.
"Aber die haben och Herz", höre ich nachts in dieser Kneipe. Auf der Newton-Ausstellung "Us And Them" am Bahnhof Zoo das rührendste Bild: Ein Selbstporträt von June Newton mit einer Zeitung in der Hand. Auf der Seite ein Nachruf auf den jüngst verstorbenen Gatten, dem heimgekehrten "Sohn Berlins". In dem Artikel ein Foto: Helmut Newton, mit seiner kleinen mju im Anschlag. So fotografiert er rüber zu seiner Frau, die die Zeitung hält, das Bild fotografiert. Sie fotografieren sich gegenseitig. Über das Ende hinaus.
Ach, Berlin. Es ist so viele Jahre her.