Mittwoch, 9. Juni 2004


Gewitter ist immer gut

Dachte ich gestern abend noch. Aber so heftig hätte ich es nicht gleich machen müssen. Mit Elektroden in den Schläfen hätte ich mir allerdings einen tüchtigen Energieschub verpassen können.

Imposante Kulisse, heute morgen um acht. Vor meiner Fensterfront eine Wasserwand, daß man dachte, der Kanal habe sich senkrecht gestellt. Die graue Wasserwelt durchzuckt von stroboskopartigen Lichtern.
Dazu noiselastige Bassdrums. Tolles Konzert.

Jetzt ist auch erstmal Schluß mit dem Samenflugschneegestöber der letzten drei Tage.

... und nun zurück zu den Nachrichten.


 



Der Tod, das muß ein Wiener sein



Als Frau Sonne und ich neulich über den Zentralfriedhof flanierten, fiel mir ein Spruch ein, den ich früher oft zu hören bekam. "So wie du arbeitest, möchte ich Urlaub machen."

Nun dachte ich, so wie die begraben liegen, möchte ich einmal wohnen. Der kleinbürgerliche, im Sinne Batailles "unbefreite", Spießer wie ich entlarvt sich ja durch seine Vorliebe für architektonische Girlanden, Türmchen, Zinnen und bauwerklichen Zierrat, gleich dem er Zweckbauten mit kitschigem Tand behängt, als seien es Weihnachtbäume. Das mag sein, malerisch ist es allemal. Und wo, bitt'schön, darf man ein kleines Herz haben, wenn nicht auf dem Friedhof.

Dorthin gelangt man schnell in Wien. Nicht nur, daß man darauf achten muß, welches Brot einem scheinbar harmlose Rentner im Park anbieten. Könnte sein, daß sie damit gerade noch Tauben vergiften wollten, wie es in dem Lied heißt.

Auch der Straßenverkehr bietet Gefahr. Zebrastreifen, so lernte ich nämlich auf die harte Tour, haben auf Wiener Straßen eher dekorativen Charakter. Ampeln sind zudem gern hoch über jeglicher Augenhöhe in der Kreuzungsmitte angebracht. Eine echte Piefkefalle. Dürfte speziell für Ostdeutsche tendenziell letale Wirkung entfalten, halten diese doch meiner bescheidenen Erfahrung nach Zebrastreifen für Fußgängerüberführungen, auf denen Automobile schlichtweg nicht zu erwarten sind.

Alles ist vergänglich.

Als wir im Hawelka saßen, eine existentialistisch angehauchte Melange schlürften, und ich mir die kulturhistorisch bedeutsamen Bruchkanten und offenliegenden Tapetenschichten an den Wänden betrachtete, fiel mir kurz Frl. Sylvia ein. Sie konnte den besten Cappuccino in meiner Heimatstadt bereiten und formvollendet servieren (nicht wie diese lustlosen, man kann es nicht anders sagen, Studentenschlunzen, die noch nie davon gehört haben, daß die Oberfläche einer Flüssigkeit sich nicht parallel zur Untertasse, sondern zum Erdboden ausrichtet. Vom Glas Wasser, das zu einem vernünftigen Cappuccino gehört, mal gar nicht zu reden).

Frl. Sylvia war immer verliebt gewesen in Wien. Nicht in mich, leider. Dabei war ich, wie die Hälfte ihrer Gäste, ein wenig in sie verliebt. Frl. Sylvia war immer sehr distanziert und verbreitete eine Aura des distinguierten ne me touche pas, daß es eine Freude war.
Einmal jedoch berührte sie meinen Arm. Sie wollte in den Süden gehen. Sie faßte mich an, und ließ mich eine lange Zeit nicht mehr los. Wir gaben uns noch die Hand und wieder faßte sie meinen Unterarm. Wir haben das beide verstanden.

Nun aber, Jahre später, standen Frau Sonne und ich im Regen auf dem Zentralfriedhof zwischen verwitterten Grabsteinen, eine kurze Gegenwart inmitten lauter Vergangenheit.
So dreht sich das Rad.

Zurück in Hamburg, nach einem Flug über strahlende Wolken, bloß andere Begegnungen, Botschaften aus einer anderen Vergangenheit. Etwas Vergebliches, leichenähnliches. Eine Lüge. An sich selbst und anderen. Ein Tropfen Blut, der ins Wasser fällt, einen langen dünnen Faden zieht, und herabsinkt. Dazu eine eigentümliche Melodie, eine Totenklage. Mehr nicht.

"Rückwärts nimmer..." - wie letzter Hohn, an Stelle einer letzten, sehnsuchtsvollen Berührung, ehe man nach Süden geht.

Keine Botschaft. Die Toten grüßen nicht. Sie haben nur Grabsteine.

You must be known then with messages you must return... to be seen by demanding hands and touches of jealous men invisible and forgivable to all their secret hands... Behind those clouds I'm almost home.

(Blonde Redhead, "Messenger")