Freitag, 4. Juni 2004
Sie blickte durch ihr Guckloch auf das graue Laub der grauen Bäume hinaus und dachte an Soledad Ordóñez, die unscheinbare, bucklige alte Frau aus dem barrio San Miguel, die zweiundzwanzig Jahre lang nicht mit ihrem Mann redete, weil er auf dem Markt von San Andrés ihr Schwein verkauft und sich von dem Erlös eine Woche lang betrunken hatte. Als er auf dem Sterbebett lag, umringt vom Priester, ihren drei Söhnen und vier Töchtern, allen siebzehn Enkelkindern und seinem Bruder, krächzte er mit viel Mühe die Worte heraus: "Soledad, sprich mit mir!" Ihr Gesicht war steinern, der Priester und der Bruder und alle Kinder und Enkel hielten den Atem an, und dann sagt sie ein einziges Wort: "Suffkopf", und er starb.
(T. C. Boyle, América, 1995.)
Ein schönes, deprimierendes Buch, das nicht ohne Hoffnung ist. Es zeigt, wie alle zaghaft keimende Hoffnung durch irrwitzige, unwahrscheinliche aber immer glaubhafte und dann fast doch vorhersehbare Weise immer wieder aufs Neue zerstört wird. Mit anderen Worten: Ein äußerst lebensnahes Buch, das unter anderem zeigt, wie ein liberaler Mittelklasse-US-Amerikaner zum wütenden Rassisten oder rassistischem Wüterich wird.
Warum? Weil der Mexikaner Cándido (sprechender Name) heimlich mit seiner schwangeren Braut América (sprechender Name) die Grenze zu den USA überwindet, um als Illegaler Arbeit und die Aussicht auf ein kleines bißchen Wohlstand zu finden. Und wie die beiden, wie weiland ein Paar namens Joseph und Maria, als Aussätzige und Unerwünschte in einem fremden Land leben müssen. Und wie alles immer nur schief läuft, fast 400 Seiten lang.
Bis am Ende buchstäblich alles verschlungen ist.