Samstag, 30. Juli 2016
Die Menschen blöken sich an auf den Straßen. Hauen sich den spitzen Hut vom Kopf. Schnupfen in den Eisenbahnen, sitzen auf Brücken und Großstadtdächern, decken sich ein mit harschen Worten und entgleisen wie Niveau von der Leiter. Ich habe die Woche über Stress, ich kann das nicht gebrauchen. Ärzte prokeln Sonden in meinen Körper, zeigen mir schwarzgraue Bilder auf dem Monitor wie von einem fernen Planeten. Dann wird Blut gezapft, als ginge es darum, einen Vampirfilm von Jean Rollin in die Betonzeit zu zerren. Im Labor hängen launige Cartoons an den Wänden und weisen die Ärzte dort als selbstironische Handwerker aus.
Zurück auf dem geheimen Forschungsgelände gleich wieder Sonderschichten und Gefälligkeitsaufträge. Arbeit! so als warteten zu Hause keine Fußböden und Badarmaturen auf mich! So geht das Tag für Tag, bis ich am Wochenende in die Käferstellung falle, plumpsend auf den runden Rücken, pumpende Tracheenatmung, wie aus unruhiger Nacht erwacht. Wenn es jetzt heißt, "Mulder, it's me", hat Scully hoffentlich ein paar nette Worte parat. Bis dahin ein wenig Kochen, Lesen, Bewegtbild schauen. Morgen poliere ich die Badarmaturen auf Hochglanz wie das Hubble-Teleskop.
Ich komm' schon noch drauf.

Dienstag, 12. Juli 2016
Steckdosen, in denen kleine, weiße Ladegeräte stecken. Steckdosen. Räume, die bestimmt werden durch ihre Steckdosen. Räume, namenlos oder ganz ohne Zweck, die bestimmt werden durch ihre Steckdosen. Schöne Räume, alte Räume, heruntergekommene Räume. Mit Steckdosen, in denen kleine, weiße Ladegeräte stecken. Räume, die - ganz Steckdose - der Raum werden, in denen das kleine, weiße Ladegerät steckt. Räume, die nur noch die Wand sind, in denen die Steckdose sitzt, in der ein kleines, weißes Ladegerät steckt. Spenderräume, Steckdosenräume, Parkstellen für kleine, weiße Ladegeräte. Ein Raum, ein Haus, eine Welt gebaut als Ort einer Steckdose, in der ein kleines, weißes Ladegerät steckt.
Zerstörte Räume, einstürzende Häuser, implodierende Welten, in denen hinter einer Steckdose, in der ein kleines, weißes Ladegerät steckt, eine weitere Welt wartet. Eine Mutterwelt, eine Tochterwelt, verbunden durch die Nabelschnur eines kleinen, weißen Ladegerätes. Das in einer Steckdose steckt.

Samstag, 2. Juli 2016
Wenn die Mannschaft baden geht. Wenn das jetzt baden geht. Wenn das einer ausbaden muß. Wenn die uns naß machen. Wenn das ins Wasser fällt. Wenn wir da absaufen. Wenn einzelne wieder abtauchen. Wenn da einer durchtaucht. Wenn wir da ins Schwimmen kommen. Wenn da Welle um Welle anrollt. Wenn da einer 'ne Bauchlandung macht. Wenn da einer ins kalte Wasser springen muß.
Nicht, daß die Luft raus ist.

Sonntag, 26. Juni 2016
In diesen europäischen Entscheidungswettkampftagen, man kann dies in Fußballfelder umrechnen, werden wieder viele Grenzen gezogen, geschlossen und neu eingerichtet. Man braucht wieder Paßwörter, Losungswörter, Visa oder einfach gutes Benehmen. Oder eine Pinnummer, so wie sie per SMS übermittelt wird, um Sendungen aus Packstation zu holen.
Mittlerweile habe ich allerlei Eselsbrücken, aber auch gewiefte mathematische Systeme entwickelt, die jeweilige Pinnummer zu memorieren. Gestern lautete die beispielsweise "4376". Das kann man sich sehr einfach merken, weil diese Zahl sich verkürzen läßt auf 4 minus 1 und 7 minus 1. Man muß sich nur 4 und 7 merken, und dann jeweils den Faktor minus 1 als zweite Ziffer. Man kann beide Teile der Gleichung auch aufaddieren, um es noch einfacher zu gestalten. Dann hat man 4 plus 7 gleich 11. Und auf der anderen Seite minus 1 und minus 1 also minus 2. Das sind dann 11 minus 2 gleich 9. Zum selben Ergebnis in der Gegenprobe kommt man natürlich auch, wenn man gleich 4 minus 1 gleich 3 rechnet und dies mit 7 minus 1 gleich 6 addiert. Das sind ebenfalls 9. In diesem konkreten Beispiel also jeweils die zweite Ziffer der Pin-Nummer, also 3 und 6.
Das Prinzip ist klar, statt mir 4376 merken zu müssen, reicht es, einfach auf den 200 Metern (diese Zahl tut jetzt nichts zur Sache) bis zur Packstation immer nur "9" zu denken. Neun, neun, neun... oder wie wir auf Englisch sagen Nein, nein, nein... das ist nicht schwer, das ist eine einfache Antwort auf komplexe Fragen. Am Terminal reicht dies natürlich nicht, hier also nicht Neineingeben, hier ist die komplette Pin-Nummer verlangt. Dafür nehme ich dann mein Mobiltelefon, und lasse mir von einem jungen Menschen in der Nähe die Zahl noch einmal vorlesen. Und voilà: Sesam, öffne dich! Moderner Warenverkehr.
Wäre es im Leben doch immer so einfach, denke ich. Man könnte komplexe Strukturen und Probleme mittels einer ausgeklügelten Formel herunterbrechen, so daß sie am Ende beispielsweise auf eine JA/NEIN-Frage hinauslaufen. Wem ist im Leben nicht schon einmal etwas, und sei es symbolisch, zu Bruch gegangen, weil zum Beispiel ein Unbekannter sich unziemlich eingemischt hat. Durch simple Rechenoperationen lassen sich Brüche bekanntlich umformen und zum unbekannten X hin auflösen. Und zwar so, daß dieses X ganz isoliert allein auf einer Seite steht. Und dann zeigt man mit dem Finger drauf und lacht. Simpel. Ein ganz mathematisch schöner Tag.
Hier in Hamburg kann man sich nicht nur sinnbildlich durch übertriebenes Trallala selbst aus dem Raucherclub ausgrenzen, da hilft auch nicht Schmidt Schnauze oder eine Pinnummer am Eingang. "Nein", heißt es dann. Bitte, Danke, Wiedersehen. Kann man sich alles ausrechnen.
>>>Geräusch des Tages: PJ Harvey liest John Donnes No Man Is An Island zum #Brexit

Mittwoch, 27. April 2016
Mit meinem aktuellen Roman Fahren Sie raus? Ah, super! schließe ich nach den Vorläufern Alles muß raus! und Warten Sie, ich hab's passend meine 2008 begonnene Stadttrilogie ab. Großstadttrilogie, Entschuldigung, ist ja Hamburg hier.
Wie immer geht es um das Leben ohne Kundenkarte, dafür mit Prepaid-Gefühlen und alles rund um die notorisch erfolglose Punk-Band "Nieten am Rubbellostisch". Geradeaus erzählt ohne literarisches Tam-tam, aber immer mit einer gehörigen Portion Schmäh und dem nötigen Maß an Augenzwinkern und Platz für ernsthafte, durchaus auch mal traurige Zwischentöne.
Das aber nur nebenbei.
Derzeit arbeite ich an einem Projekt über die soziale Beziehung zu Außenterrasssenkultur. Sitzen lernen soll der nächste Band meines Autobiografie-Zyklus heißen. Die Kapitel "Im Kuchen stochern" und "Wer denkt, darf auch mal Pause machen" sind bereits fertig, so nach und nach sammelt sich weiteres Material. Von Übereifrigkeit befreite Yolo-Prinzessinnen, S-Bahnen, die wie schlafende Drachen irgendwo rumliegen und nicht fahren oder vielleicht später, nur nach einem komplizierten Ritual. Regenschirme, die von Touristen wie Excaliburs geschwungen werden - man ahnt es, ich orientiere mich zum Fantasy-Bereich. Darin liege viel Geld, sagt meine Agentin. Und manchmal auch Ruhm. Nun habe ich von letzterem ja die Taschen quasi voll und einiges noch unterm Kopfkissen. Geld aber ist mir ein wenig fremd, wir sehen uns nur selten, was ich bedaure, denn ich finde es voll schön.
Mit Geld könnte ich den Regen vertreiben und auf einer luftigen Terrasse sitzen, Kuchen mümmeln und Kaffee trinken. Mir einen Titel beim schönen Konsul kaufen und ein sausbraus zurechtgeföntes Leben leben. Denken würde ich natürlich auch an euch und in Fotoapparate winken. Eine eigene Briefmarke ließ ich mir widmen (37 Cts.), und mein Blog und meinen Regenschirm ließe ich mit Blattgold ausschlagen.
Mein Leben sieht anders aus. Regen immerhin tropft auf alle Häupter gleich. Die Terrassen aber liegen verlassen, Leute. Die Terrassen liegen verlassen.
>>> Geräusch des Tages: Heavy Rain and Wind Sounds For Sleeping / Relaxation

Donnerstag, 31. März 2016
Nanü, hier bricht sich Sonne durch den Hafennebel. Komm, sag ich, ich kauf dir unten am Büdchen ein Sodawasser mit Sprudel. Wir sitzen eine Weile am Rand, scharren mit den Absätzen gegen die Mauer. Trinken was auf Hamburger Art. Ich übe dabei ein wenig Rheinisch.
Zeit, mal die engen Jacken aufzumachen, den Mief auszuschütteln und die Krümel, die dieser und jene in die Falten und Falze und Taschen gedrückt haben. Kopf anlehnen wie so Pferde, die einen heimlich nach Karotten durchsuchen. Es gibt da draußen so viele Grautöne zu entdecken. Beschränkt euch nicht mit Schwarz und Weiß.

Sonntag, 6. März 2016
Greif ich ins Portemonnaie, ist da noch Bargeld drin. Bargeld lacht, heißt es, lacht mich aus, blöde Sau, zahl ich dir heim, geb ich dich aus. Bald ist es weg. Bald soll Bargeld überhaupt weg sein, eine Verschwörung wider die Geschäftsfreiheit natürlich, für mehr Überwachung natürlich, dann gibt es aber bald sowieso Essensgutscheine und Bargeld nur noch im Keller. Da lacht es dann.
"Ich liebe den amerikanischen Dollar", sagte Madonna auf einem frühen Höhepunkt ihres Erfolgs. "Jeden einzelnen, den ich verdiene, gebe ich aus." Das klang damals in den Vor-Riester-Zeiten revolutionär hedonistisch, Popstar laß das Scheffeln sein, wirf ne Runde, schmeiß' was ein! und ließ uns irgendwie alle gleich abgebrannt erscheinen. Nur, daß die einen eine Kelly-Clutch besaßen und wir eine Plastiktüte vom Plus (Prima leben und sparen!). Ich selbst bin ja, Leute, die mich ausnutzen lieben, wissen das, ein äußerst friedliebender Mensch. In mir tobt eben kein Krieg, was daran liegen könnte, daß ich Geld nur aus dem Fernsehen kenne. Ein nackter Mann hat schließlich keine Taschen, wie der Volksmund weiß.
Ich bin ja gegen den Krieg. Habe aber nichts gegen Geld. Hätte ich Geld, würde ich nicht Krieg führen, sondern was kaufen. Eine Küche aus grauem Beton vielleicht. Und ein ansprechend großes Appartement drumherum, damit ich von ferne auf den glattpolierten Betonküchenblock zulaufen könnte. Auf Rollerskates, die ich mir dann auch kaufen würde. Oder ein Longboard. Die Szene würde ich dann mit einer teuren Kamera fotografieren oder besser noch, von einem eigens einbestellten Malerfürsten malen lassen. Tobten in mir nicht nur Scharmützel und Gefechte, sondern ein wirklich großer Krieg, hätte ich also zählbar viel Geld, trüge ich einen gelben Samtanzug, also jeden zweiten Tag, denn dazwischen gäbe ich ihn unbekümmert in die Reinigung.
Oft fragt man sich: Krieg ich dafür jetzt Geld oder krieg ich keins? Das also ist dieser Krieg in uns selbst, Kohlekrise, Moneten Wars I - III, Zaster-Zoff. Nächste Woche, man rief mich an, soll ich zur Bank, zur Abrüstungskonferenz.

Montag, 29. Februar 2016
It's a universal invariant!"
(Akte X, "Gezeichnet")
In meiner Straße wohnt der Rattenkönig. Das quasi mythische Phänomen kommt in der Natur selten vor, aber hier im unscheinbaren, graugetönten Viertel scheint er ein dreischwänzig verknotetes Unwesen zu treiben. Schön anzusehen ist das nicht, aber authentische Alltagsbeobachtung ist eben kein Zuckergußbloggen, und auch eiternde Wunden brauchen einen zartfühlenden Arzt. Die Schrift an der Wand ist eben überall, mittlerweile aber wirkt selbst Special Agent Fox Mulder sehr, sehr müde und dem mühsamen Deuten all dieser Zeichen überdrüssig. Was soll ich erst sagen? Nachdem ich diesen Monatsanfang ja mit Kopfschütteln (über mich selbst) begann, ließ ich mir zum Monatsende mal schön den Kopf waschen und mich wie ein Pferd vor die sprichwörtliche Apotheke führen (Kotzen muß man freilich selber). Also immer einen einen Schritt weiter gehen und nicht nur bis neun, sondern auch bis zehn zählen. Oder einfach eins und eins zusammen. Paßt schon.
Dabei ist es kompliziert: Menschen pflegen ab und an eine sonderbare Art von Humor (man mag ihn goldig nennen, so als käme er vom Ende des Regenbogens). In anderen Kulturen oder auch Landkreisen pflegen sie unkonventionelle, vielleicht vorgregorianisch angelegte oder nach archaischen Beobachtungssystemen geführte Kalendarien. Vielleicht hat sich Special Agent Dana Scully deshalb einfach geirrt. Vielleicht kann Zeit doch elastisch sein. Zeit, die zeitgleich läuft und zugleich verknotet ist wie ein Rattenkönig. Der 29. Februar beweist, manche Jahre haben mehr Tage, andere dafür möglicherweise mehr Monate, das sollte man mal wissenschaftlich untersuchen. Aber nein, stattdessen bauen sie Dinge wie... Dinge wie... na, Dinge eben, die keiner braucht.
Der größte Rattenkönig, zurück zu den miraculösen Naturerscheinungen, ist in Altenburg zu sehen, auch in Hamburg gibt es einen in der zoologischen Sammlung. Ein böses Omen soll er sein. Ein Gedankenknäuel. Ich muß diesen Fund vor meiner Türe daher als unschön gemeinten Hinweis verstehen. Ich weiß schon, warum ich nur noch Leute hineinlasse, die ich schon seit Jahrzehnten kenne. Und zwar mit Namen und Geburtsdatum. Vorsicht zahlt sich am Ende immer aus, wenn man hinterm Mond lebt so wie ich. Schon aus erholungsschlafschützenden Gründen. Von wegen, nachts schlafen die Ratten doch: Wer kann schon ruhen, wenn irgendwelche Wesen in den ausgehöhlten Wänden scharren oder sich Gedanken unlösbar verknoten wie gordische Rattenschwanzgeflechte?
Zur Zeit schaue ich mit mildem Lächeln die Serie Grimm, weil die so schön schlicht gestrickt ist und nicht verknotet und fabelhaft in Art und innerer Verfaßtheit deformierte Wesen wie du und ich vorstellt. Mit halb zugekniffenen Augen und dem mir bekanntermaßen innewohnenden von unschuldiger Zuneigung geprägtem Wohlwollen erinnern die einzelnen Episoden an die Monster-of-the-Week-Folgen von Akte X, allerdings ohne den Resonanzraum einer bewegenden Liebesgeschichte und einer beklemmenden Regierungsverschwörung. Aber wie ich immer sage, auch Spezialagenten müssen hie und da abschalten und nicht immer alles mühsam auseinanderklamüsern wollen. Sollte ich bis Staffel 5 durchhalten, erwartet mich also die Folge "Rattenkönig". So wird sich dann letztlich alles ineinanderfügen. Ich erhoffe mir dann weitere Märchen grimmige Erkenntnisse und halte bis dahin Augen und Ohren offen. Die Türe aber geschlossen.
>>> Geräusch des Tages: Einstürzende Neubauten, "Der Rattenkönig".

Sonntag, 7. Februar 2016
Hier und da, das wird einige jetzt nicht sonderlich überraschen, bin ich ja so richtig doof. Also nicht, wenn es um Dinge wie kalte Fusion, dekompressive Kraniotomie oder anlaßlose Religionsstiftung geht. Soziale Problemstellungen aus dem zwischenmenschlichen Bereich aber, die über einfache Transaktionen an der Supermarktkasse hinausgehen (steuerlich betrachtet also eine simple Einnahmen/Ausgaben-Überschußrechnung, Anlage EAÜ), verstünde selbst ein Dr. Dr. Sheldon Cooper besser als ich.
Da ich selbst wiederum ein gutes und sogar immer mal wieder ungebrochenes Verhältnis zu mir selber habe, nenne ich es lieber nachsichtig naiv, so als könne man das Problem dadurch lösen, striche ich mir selbst liebevoll übers Haar und kniffe mir kurz in die Wange dabei. Die Tage, als ich den Haushalt mehr und mehr auf LED-Leuchten im "Glühbirnen"-Look (es gibt sogar nostalgische Edisonlampen in LED-Technik für die Industrial-chic-Fans unter uns) umstellte - eine banale Beschäftigung sicherlich in Zeiten, in denen Fußballvereine um ihre Klassenzugehörigkeit bangen müssen - ging mir ganz buchstäblich ein Licht auf, das mir die eigene Blödheit an die wenigen freien Wände hier im Haus projizierte. [Aufbl. schallendes Gelächter aus der Konserve] "Denn siehe: Erst bist du verblendet, dann blendet dich das Licht der Erkenntnis." [1. Vers, 17]
Die Ursache ist im Spiegel rasch erkannt. Vor einiger Zeit ging eines meiner geheimen Geheimexperimente fürchterlich schief, und ich habe seither den Eindruck als mieden mich die Menschen. Sie erfinden Ausreden, das spüre ich deutlich, ohne einen meiner Fühler genau in die Wunde legen zu können. Sie haben plötzlich Termine, beim Arzt, beim Steuerberater oder zur Ummeldung beim Ortsamt. Manchmal begreife ich es auch nicht gleich, sondern erst Monate später, wenn plötzlich wie aus den offenbar zeitelastischen Kalendern anderer Leute Erkenntnisse und Zusammenhänge schlüpfen, einem Insektenkokon gleich, aus dem dann doch kein Schmetterling wird. Das soll aber auch ein Fliegenhirn verstehen, denke ich. Das ist doch viel zu komplex, auf eine ungesunde, hirnzellenmarternde Weise. Wenn ich wenigstens Flügel hätte, aber nein, wie mit Honig verklebten Gliedern torkel ich mühsam durch endlose, leere Räume, durch die LED-weiß erleuchteten Gänge eines mitleidlosen Finanzamts und vorbei an wehenden Vorhängen. Ausgestoßen! Wie heißt es im Lied: "Ninety-six tears in ninety-six eyes." Ein Fiebertraum im Kabinett des Dr. Kid!
Jetzt also Warten auf den Aschermittwoch, danach Fastenzeit, bloß um später wie frisch entgiftet, schlackebefreit und auch endlich mal geduscht den Frühling zu neuen Experimenten im Geheimlabor unterm Maibaum zu begrüßen. Ach, nicht mehr Fliege - Dodo Vogel will ich sein!
>>> Geräusch des Tages: The Cramps, Human Fly

Samstag, 9. Januar 2016
Ab und an, eine innere Stimme redet mir zu, ob gut oder böse gemeint, man weiß es ja nicht, versuche ich es mit Kontaktanbahnung auf einer näheren, durchaus auch persönlich gemeinten Ebene. Dabei habe ich allerdings immer wieder mal Körbe erhalten, die ich immerhin, das ist die andere Seite, denn jedes Phänomen hat bekanntlich zwei davon, ganz prima zur Aufbewahrung von Zwiebeln, Kartoffeln und Altpapier benutzen kann. Insofern ist nichts vergebens oder ohne Nutzen auf dieser Welt. Andererseits denke ich, ebenfalls ab und an, Single - das ist doch auch immer nur dasselbe Lied, so eine B-Seite, eine jedes Ding hat doch wohl zwei Seiten, wäre schön.
Nun sind meine Strategien einerseits sehr ausgefuchst. Da zeige ich meine tierliebe Seite (mehr. Bildbände ü. taxidermische Kunst vorh.) oder mein von unlauteren Trieben befreites viels. Interesse an geistigen Gesprächen (mehr. Bildbände ü. Sektionspräparate vorh.) - allein, gebracht hat es außer kritischer Aufmerksamkeit nichts. Manchmal auch einen Lacher, so als habe ich einen guten Witz gemacht.
Dann höre ich seit einiger Zeit konkrete Musik. Konkrete Musik ist sehr anspruchsvoll, auch wenn es sich mitunter anhört, als stimme dort jemand sein Kurzwellenradio ab oder säße im Inneren eines Staubsaugers. Das ist komplex und läßt mich ebenso erscheinen und - wie Polizist Dietmar Schäffer sagen würde - "Ist auch wichtig!" Ich sitze dann, höre also aufmerksam meine Schallplatte mit elektronischem Gefiepe oder dissonanten Maschinengeräuschen, lasse alsbald meine Augen durch die gute Stube wandern, entdecke vielleicht einen Spinnweb (wirklich nur einen) oder einen einsamen, vertrockneten Krümel auf dem Teppich und denke, ich weiß nicht, wie ich ausgerechnet in diesem Moment darauf komme, Staubsaugen könnte ich ja auch mal.
Dann sauge ich ein wenig Staub, auch richtig bis in die Ecken rein und nicht die Abkürzung in der Runde, stelle die Saugkraft auch gleich mal etwas höher denn da läuft ja noch diese konkrete Musik damit es auch richtig sauber wird. Und dann bin ich - dank der konkreten Musik - im Anschluß sehr glückl.: Ernsth. Kunstinteresse und auch tatkräft. im Haush. Ich möchte das empfehlen, einerseits.
Andererseits macht konkrete Musik nicht sexy. Es ist so: Alles, was ich über Menschen weiß, habe ich aus Westermanns Monatsheften, von denen ich ein nicht wirklich aktuelles, aber doch sicher zeitloses Exemplar auf dem Flohmarkt erstanden habe. "Möchtest du mitkommen, Staubsaugermusik hören?" ist kein Sager, der gut und vor allem aufrichtig verstanden werden würde. Menschen ziehen einzelne Augenbrauen hoch, schauen auf ihr elektronisches Mitnahmegerät, seien ja noch irgendwo zum "Coffee-to-go" verabredet, leider, leider... es ist nicht einfach. Manchmal, dank Westermanns Monatshefte weiß ich, wie man sich benimmt und Freunde gewinnt, überrasche ich Menschen mit einem Strauß Blumen und meinem tragbaren Phonokoffer, um mit ihnen konkrete Musik zu hören. Ich habe natürlich keinen Beweis, Menschen reden - anders als eine gewisse Musik - häufig so unkonkret. Aber es scheint als seien diese Menschen nicht nur froh über mein Kommen.
Am Ende bleibt das Inserat. Um nicht allein mit meinen verwitterten verwitweten Gedanken zu bleiben, formuliere ich schlichte Herzenswünsche, verweise auf meine Expertise als preisgekrönter Foto Photograph mitunter kurvenreicher Landschaften und appelliere an die herzensg. und haushaltsnahen Wünsche junggebliebener, unbemalter Nichtraucherinnen. Wie ein guter Geist könnte ich "Sie" nebengedankenfrei und modern mit meinem Staubsauger umwienern. Ganz konkret zu guter Musik. Ganz herzl.
>>> Geräusch des Tages: Rune Lindblad, Thermonuklearreaktion
