
Catching the big books: Wie im Zimmer eines Fans
Mitte der 80er-Jahre (ich musste meinen Schülerausweis fälschen) landete ich mit einer Bekannten im Kino in diesen „merkwürdigen“ Thriller, von dem so viel geredet wurde. Der Film hieß Blue Velvet und war in seiner unerwarteten und scharfkantigen Mischung aus Sex, Gewalt und groteskem Humor tatsächlich deutlich anders als das gewöhnlich präsentierte Kino dieser Zeit, das sich noch stark in „U“ und „E“ teilte, also den Hochglanz-Literaturschnarchern des Programmkinos und dem Kloppergenrekino, das meinen jugendlichen Geist ebenfalls nicht aus dem Sessel riss (ich hätte dafür ja ebenfalls meinen Schülerausweis fälschen müssen).
Mitte der 90er-Jahre (ich hatte bereits mehrfach meinen Studentenausweis verlängert) lockte mich eine anderen Bekannte ins Kino, weil dort David Lynchs Debütfilm Eraserhead laufen sollte, eine seltene Gelegenheit zumal in der eher verschlafenen bis kulturell trostlosen Stadt, in der wir da waren. Ein sicherlich falsch gedruckter Kalender (die Bekannte war sonst sehr gewissenhaft) führte aber dazu, dass Eraserhead gar nicht lief, sondern, das weiß ich noch, Tote schlafen besser mit Robert Mitchum, der zunächst auch nicht gezeigt werden sollte, weil sich nur drei zahlende Personen als Zuschauer eingefunden hatten, dann aber doch lief und auch sehr schön war, weil unter anderem Charlotte Rampling darin mitspielte.
Im Kino des David Lynchs passierte viel Merkwürdiges, insofern war das kleine Nicht-Erlebnis mit Eraserhead nicht verwunderlich, zumal dort Charlotte Rampling nicht mitspielt (und auch sonst in keinem seiner Filme). Zu dieser Zeit begeisterte Schülerausweisfälscher und beharrliche Studenten gleichermaßen sowieso ein anderes Ereignis: das Fernsehen, in diesem Fall das frisch eingeführte private, zeigte Twin Peaks, eine aufsehenerregende Show mit einer beinahe erwarteten scharfkantigen Mischung aus Sex, Gewalt und groteskem Humor, über die viel geredet wurde. Man musste damals noch jedes Mal eine (1) Woche warten, bis die nächste Folge gezeigt wurde – oder jemanden kennen, der Kontakte in die USA (ein großer Staatenbund in Nordamerika) unterhielt und Informationen und Gerüchte kabeln konnte. Andererseits gab es die notwendige Gelegenheit, sich regelmäßig mit anderen Intensivsehern im Büro der studentischen Hilfskräfte auf einen Kirschkuchen zu versammeln und Theorien zu beraten, wer denn nun diese Laura Palmer getötet haben könnte. Dear dead days.
Laura Palmer und habe ich 25 Jahre später wiedergetroffen, genau wie diese Bekannte, die ich zwischendurch aber auch sah, daher zählt das als Vergleich nicht viel. David Lynch hatte sich in dieser Zeit und ohne sein direktes Wissen ohne Zweifel in einen Künstler gewandelt, der mich sicher mehr geprägt hat als irgendjemand sonst. Manches Mal dachte ich, der sitzt wie ein Angler am Fluß meiner Träume und fängt sich da die dicken Fische raus! Er war da längst seine eigene Marke geworden mit unverkennbarer Silhouette, den schwarzen Anzügen, dem aufgetürmten Silberhaar und der Rauchwolke seiner Zigaretten, die immer über ihm hing. Seine Filme bohrten wie dicke Finger durchs Vorortidyll, durch amerikanische Träume und nostalgische Erinnerungen, puhlten das Grauen heraus, das Blut und die Brüche, und legte das Ohr an tiefe schwarze Abgründe, aus denen rückwärts gesprochene Botschaften quollen, geflüsterte Geheimnisse oder eindringliche Warnungen. Und ich bewunderte diesen Luxus, als vielleicht letzter Auteur weitgehend abseits großer Studios Filme produzieren zu können, die erkennbar seine Handschrift trugen und ansonsten auskömmlich und in Ruhe in seinem Haus (eigentlich zwei) am Mulholland Drive in Hollywood zu sitzen, Quinoa zu kochen und in einer strikten Tagesroutine in seinem Atelier zu malen und zu basteln. Living the Art Life, wie eine sehenswerte Dokumentation über ihn titelte. Toll. Es war die Zeit, als er begann, sein Werk zu sortieren. Das bildnerische diesmal, Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, die in mehreren Bildbänden veröffentlicht und in einer großen Schau in Paris gezeigt wurden. Musik gab es und kleine Animationsexperimente. Er räumte auf und bestellte den Hof, schrieb seine Memoiren.
Die dritte Staffel von Twin Peaks entpuppte sich als faszinierenden Meisterwerk, das Fernsehgewohnheiten noch einmal komplett auf den Kopf stellte. In einigen Folgen pures, unerklärtes Kunstkino, eher eine Videoinstallation, wie man sie in einer Galerie oder einem Museum erwarten würde, und alles zur Prime-Time, also besten Sendezeit. Ein mysteriöser Thriller, eine Komödie voller groteskem Humor, eine elektrisch summende Seifenoper mit Sex und Gewalt – aber anders fokussiert, als in seinen früheren Werken. Danach begann er wieder mit täglichen Wetterberichten auf seinem Youtube-Kanal. Dort zog er auch die Glücksnummer des Tages aus einem Glasgefäß. Nie war die 7 darunter, und eine 37 gab es nicht. Als er nach einer Pause ein paar Wochen später wieder damit anfing, dachte ich erschrocken, dass er wohl krank müsse, so eingefallen und von Kraft beraubt wirkte er plötzlich. Das war wohl die Zeit seiner Diagnose. Eine Zeit lang machte er noch weiter im täglichen Wetterdienst aus seinem Atelier. Dann pausierte es erneut. Er sei in Gesprächen, hieß es. Ein neuer Film oder eine neue Serie mit dem Arbeitstitel „Wysteria“.
Im Januar aber, kurz vor seinem 79. Geburtstag, hielt das Herz zu schlagen auf. Komplikationen eines Lungenemphysems, offenbar Spätfolgen seines unablässigen Zigarettenkonsums. Die Waldbrände in L.A. Wirkten plötzlich wie ein letztes großes Fire Walk With Me, wie einer seiner vielleicht konsequentesten und verstörendsten Filme heißt. Er sei gestorben, hieß es. Dabei sieht man ihn in den eigenen Träumen doch vor sich: in einem roten Raum in seinem Haus in Hollywood, mit einer Sauerstoffmaske - so wie sein berühmter Bösewicht Frank (Dennis Hopper) in Blue Velvet. So betrachtet, hat er alles schon gewusst, wie wir ja immer alles schon wissen, also ahnen, und manchmal sogar zulassen. Nur die 7, die kommt nicht mehr.