Was für eine Geschichte. Die für ihren Ausziehtanz berühmte Unterhaltungskünstlerin Mimi Joconde ("La Belle sans Chemise") sitzt nach ihrer Show gerade erschöpft in der Garderobe vom Pariser Vergnügungsladen Aphrodision, als im Theater ein Feuer ausbricht und die Panik dazu. Mimi, todesmutig und lebensunerschrocken, steigt mitten in der Nacht in ihrem Arbeitskostüm (sprich: ohne was) aus dem Fenster und flieht im Schein der Flammen über die Dächer in ein Abenteuer, bei dem einem abwechselnd heiß und kalt werden wird. Immer in der Angst, von braven Bürgern oder aber der Polizei erwischt zu werden, trifft sie in ihrer Not auf nur anfangs galante Herren, trunkene, wohlhabende Unternehmer am Ende ihrer nächtlichen Schwarmtour, fremde Ehemänner und andere Einbrecher, Räuber und Betrüger, "Damen eines gewissen Hauses", die sie zu einem "Vorstellungsgespräch" schanghaien, Schamlose und Ignoranten, schlüpft abwechselnd in geliehene oder gestohlene Kleider oder Mäntel, die sie auf überraschende Weise immer wieder verliert, schlüpft aber auch nackt in Pelze, in Autos, geistert durch die Etagen und sozialen Schichten abgelegener Mietshäuser, findet manchmal Schlaf und Etwas zu Essen, aber einen Hafen, den findet sie nicht.
Erfunden (nehme ich an) hat diese wilde Kolportage über eine junge Damsel in Distress die Schriftstellerin Renée Dunand (1882-1936), die aber auch keiner mehr kennt. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts abenteuerte sie als Journalistin, Autorin, Anarchistin und Dadaistin, verkehrte mit den Surrealisten um André Breton, Philippe Soupault, Louis Aragon, Paul Éluard, Francis Picabia, war Nudistin und Feministin, kurz also sehr modern, mondän und überaus de jour. Unter verschiedenen männlichen wie weiblichen Pseudonymen veröffentlichte sie Krimis und reißerische Krawallgeschichten, psychologische, erotische und esoterische Romane, fantastische Erzählungen und Science-Fiction.
Ein paar wenige Titel erschienen auch auf Deutsch, wie etwa neben Mimi Joconde auch Jean und Bekenntnisse eines Cynikers, heute allesamt nur antiquarisch erhältlich, obwohl sie einst offenbar weit verbreitet waren und selbst in Hamburg Hammerbrook gelesen:
Das Blog Renée Dunan trägt dankenswerterweise akribisch zusammengeführte bibliografische Listen und Notizen zusammen. In Frankreich wird Dunan offenbar auch aktuell noch viel besprochen und neu aufgelegt, im Comic Renée Dunan contre les mutants (La Ligue des Écrivaines Extraordinaires) wird sie gleich selbst zur Heldin. Hierzulande bleibt sie (und auch dieser Comic) weiter eine Verschollene. Und die kecke Mimi?
Nun, das Ende, so viel sei verraten, endet wieder im Pelz, mit einer überraschenden Wendung, bei der man denkt, puh, Mensch Mimi. Alles Gute!
(* Ehrlicherweise halte ich das Bild für eine Manipulation, die später erst im Studio entstand. Trägt Mimi doch für das im Buch beschriebene Splitternackte eindeutig zu viel. Hier verlangte die Zensur wohl einen keuscheren Auftritt.)