Nachtzug nach Nirgendwo



Neulich suchte ich auf eBay nach irgendwie abgegrabbeltem Baum- und Buschwerk in H0 für ein keines Diorama, das ich basteln wollte. Aber die deutsche Modellbauszene ist mein Endgegner. Es sollte eine skulpturale Inszenierung werden zum Thema "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" Ich dachte, na, ich bin doch wie eine Lokomotive - ständig unter Dampf und am Zug und unerbittlich und stetig voran. Ehrlicherweise - muß man nach 5322 Tagen in Geiselhaft von Covid19 sagen - sind es aber wohl mehr die Aspekte schnaufend und ächzend, die mittlerweile an mir auffallen.

Nun sind Bäume aber eh überbewertet, wie man an den umfangreichen Fällaktionen sieht, die derzeit all überall in Hamburg stattfinden. Neulich war ich ein paar Stunden aus dem Haus, um meine Corona-Warn-App auf Trab zu halten, und als ich wiederkam, konnte ich am Horizont plötzlich Häuser sehen, von denen ich gar nicht gewußt hatte, daß sie dort stehen. Das Grün dazwischen, perdü, wech, häxel, häxel, es kam der Tag, da mußte die Säge sägen. Als Realist der Imagination werde ich also nur noch baumlose Dioramen bauen. Vielleicht wird dies auch ein neuer, werbewirksamer Slogan so wie "ohne Fleisch", "ohne Nitrate" oder "ohne Palmöl". Willkommen in unserem Stadtteil - jetzt auch "ohne Bäume"!

Meine Träume und Zukunftsvorstellungen als junger Mann waren übersichtlich. Im Nachtzug nach Paris, dort dann mit - nur als Beispiel jetzt - François Hardy durch die Cafés der Stadt ziehen, ganz lässig oder wie man dort sagt "leger". Und dann noch lässiger an einem Pastisgetränk nippen, hören, wie sie ihrer Freundin zuflüstert "Je veux qu'il revienne", und gut ist. Aber als ich endlich alt genug war, das Land im Nachtzug zu verlassen, waren die von der Bahn schnöde abgeschafft und so die halbe Romantique schon vorbei. Die Hardy hat dann extra Deutsch gelernt und mir 2:41 Min. lang was auf meinen Anrufbeantworter gesummt. Na ja. Comme ci, comme ça, wie man so sagt. Comment te dire adieu.

Traumdiebstahl, im übrigen ein schweres Delikt. Heute also entträumt und überfahren und ächzend und schnaufend statt im beschwingten YéYé-Schritt, wie gefesselt auf den Gleisen liegend und an bald auch noch verbotener Kohle lutschend statt Pastis. Fünf Jahre! Fünf Jahre! Fünf Jahre! hallt es durch lange, leere Flure. Aber auch auf den letzten Meilen heißt es: nach vorne sehen! Die Nachtzüge kehren zögerlich zurück. Man kann nach Wien, nach Zürich, Stockholm und vielleicht auch bald nach Paris. Im Grunde auch egal, einfach voran, zur Not ins Nirgendwo.

Homestory | 13:41h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
samojede - Samstag, 29. Januar 2022, 15:37
Comment ça va , kid37








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kid37 - Samstag, 29. Januar 2022, 16:11
Qui, ça va. C'est comme ça.

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nnier - Samstag, 29. Januar 2022, 22:47
Ouf. Großartige Version. Die kannte ich nicht, danke!

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kid37 - Montag, 31. Januar 2022, 20:52
Über die beiden müßte ich auch mal was zusammensortieren, ist ja leider nicht nur schön. (Und übrigens mit Louis Bertignac von Téléphone "à la gratte", wie man da so sagt. Sehr impressiv.)

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au-lait - Mittwoch, 2. Februar 2022, 00:46
Wären Minitrix und -tipps hier stattdessen hilfreich, auch wenn die Spur-N-Zwergenloks viel kleiner ächzen und schnaufen und die Bäume und Buschwerke womöglich allzu viel Feinmotorik bräuchten oder ein viel zu kleines Diorama ergäben? Hauptsache, Nachtzüge fahren zumindest literarisch seltener nach Lissabon. Grandioser Text, mein Lieber. Ich bin immer wieder fast sprachlos.

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kid37 - Mittwoch, 2. Februar 2022, 19:05
Vielen Dank, das ist sehr freundlich. Minitrix auch, aber dann tatsächlich doch etwas zu klein. Für mein Vorhaben (kleines Foto-Set) bastel ich das einfach selbst, habe ich jetzt beschlossen. Hab schon vom Sturm verwehte Minizweige gesammelt und experimentiere gerade mit Kronen aus unterschiedlichem Material. Den Unterschied sieht nachher kein Mensch - oder hätten Sie gedacht, dass der Zug im Foto oben gar nicht echt ist?!? Ist ein Theater hier, eine Weltbühne.

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