Hirntag



Als Freund der inneren und äußeren Schlichtheit, ganz Wabi-Sabi also, stelle ich derzeit mehr Sabi als Wabi zur Schau. Aber siehe, auch diese Patina ist nur scheinbar. Denn beim Sortieren schüttel ich meine Gedanken gut durch, knete ein wenig an den Synapsen und puste mein Hirn ordentlich von Staub frei.

Zuletzt habe ich viel (sozusagen ein "Crashkurs") über automobile Sicherheit gelernt. Autos, die Piepsen und Summen, wenn ihnen Umwelt zu nahe kommt. Als geübter Beifahrer kann ich Vergleiche anstellen. Ich habe Dinge erlebt (und überlebt), die dem Gehirn eines Phantasten entsprungen sein könnten. Mit Gaffa-Tape zusammengeklebte Autos, die über Landstraßen geprescht werden. Junge Fahrerinnen, die mit ihren Kleinwagen bei 120 forsch in eine geschwungene 80er-Baustelle durch Nürnberger Hütchen voltigieren, daß einem der Schweiß in den Nacken perlt und einem Liedzeilen einfallen wie "when a ten-ton-truck crashes into us...", dann noch überpulsierte Slalom-Schwimmer im Stop-and-Go-Stadtverkehr, daß einem lagerungsschwindlig wird, hielte man sich nicht am Türgriff fest. Immer wieder also ein Genuß, wenn man gut luftkissenumpackt und grundentspannt aus der Komfortzone befördert wird. Man spart ja auch Magenpastillen!

Blockaden, auch das ist interessant, lassen sich wegstempeln. Hau "quasi" weg! In fünf, sechs Monaten schlagen zudem nicht nur manche Hirne, sondern auch Herzen schneller. Alles Gute bis dahin, möchte man rufen. Und schon ist der nächste Anrufer in der Leitung... Ähnlich, wie wenn ein Gedanke den nächsten jagt. Ich könnte zum Beispiel auch Hellseher werden und für jeden Tag eine besondere Karte aus dem Anatomieatlas (Adolf Faller, Der Körper des Menschen) ziehen. Ihr Glückstag: Hirntag.

Wenn ich links unten in die Ecke schaue, stelle ich fest, daß da Bücher gespeichert sind, die [ich] längst vergessen habe. Ich könnte da einfach was freiklopfen und brauche für Lesegenuß keine neuen bestellen. (Das ist der Notvorrat für den nächsten Lockdown.) Ich bin ja kein Intellektueller, habe mir jetzt aber folgendes gedacht:

Neue Gedanken sind also möglicherweise alte Gedanken, die man nur nicht mehr erinnerte. Als somnambule Gestalt schlingert man an Nürnberger Hütchen vorbei durchs Leben, denkt "Ach!" und "Kommt mir bekannt vor!" und ahnt nichts von den Zusammenhängen. Jetzt tut mal nicht überrascht.

 
herzbruch - Mittwoch, 14. Oktober 2020, 20:17
Die allerdringendste Frage, die sich mir in diesem Gesamtkontext stellt, ist ja die nach dem fehlenden Reflexivpronomen nach „erinnern“. Ja, Sprachwandel live beobachtet (Einfluss anderer Westgermania), aber hier an diesem Ort hätte ich das ja nicht erwartet. Was kommt als Nächstes? Weil mit Hauptsatz? Brauchen ohne zu? Sie wären sehr vor der Welle.

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kid37 - Mittwoch, 14. Oktober 2020, 20:28
Erinnerungskultur wird hier natürlich groß geschrieben, das erinnert an vergangene Zeiten, wie auch der Duden weiß. Mangelnde Reflektiertheit ist sicher ein Zeichen der Zeit, mich aber stört vielmehr ein fehlendes "ich" im Text. Von dem ein oder anderen Beistrich gar nicht zu reden.

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fidibus - Mittwoch, 14. Oktober 2020, 20:39
Ein rasender Blogger! :-)

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kid37 - Mittwoch, 14. Oktober 2020, 20:52
Sie sollten sehen, wie ich mit einer Hand mein Hütchen festhalte!

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fritz_ - Freitag, 23. Oktober 2020, 00:56
Das mit dem Wabi-Sabi begegnet einem im Leben immer wieder und erfreut einen, wenn man hinsieht. Und nicht zu sehr auf irgendwas anderes dressiert ist. Ich hatte bis jetzt noch keinen Namen dafür. Schönes Ding, herbschön natürlich.

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kid37 - Freitag, 23. Oktober 2020, 19:08
Ja, die schöne Patina. Eine angenehme Ruhe liegt darin.

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