Mach mal Nacht

Eine Ahnung überkam ihn,
daß dieser Mann ein ähnliches Leiden litt wie er,
daß er an einer ungestillten Inbrunst krankte,
die sich aus einem engen und törichten Leben
in alte Bücher geflüchtet hatte.

(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis.)



Mit 17 oder so las ich das Buch das erste Mal. Es gab ein Exemplar in der Stadtbücherei. Mehr als der Titel hatte sich nicht so recht in Erinnerung gehalten, und der diffuse Befund, daß ich es ganz gut fand. Die Lücke in meiner eigenen Bibliothek habe ich nun endlich gefüllt, und Severins Gang in die Finsternis (1914) erweist sich als bestürzend spiegelnde Lektüre, wenn man, nicht mehr ganz 17, selbst bereits ein, zwei Mal durch Gänge gegangen ist. Der Titelheld, ein abgebrochener Student und Büroknecht, schleicht durch die alten Gassen Prags, steigt den Röcken hinterher und stürzt sich ins Unglück. Dabei trifft er auch den alten Antiquar Lazarus, von dem es heißt: "Er hatte schon bald ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken, aber trotzdem waren die Weiber noch immer seine liebste Passion." Alles kein Umgang für den jungen Mann und so nur die knappe Zusammenfassung.

"Seine exzentrischen Prosawerke erzielten häufig wegen ihrer freizügigen Behandlung erotischer Themen Skandalerfolge", heißt es bei Wikipedia über Leppin. Ich weiß nicht, ob sein Gedichtband Glocken, die im Dunkeln rufen in diese Richtung geht. Ich werde es herausfinden. Wenn ich mich recht erinnere, ist es mit Gespenstern bei Severin nicht weit her, bin aber erst bei der Hälfte. Der Ton ist melancholisch freilich, die lasziven Abenteuer, die er sucht, wärmen kurz, sind traumhaft flüchtig wie aus einem Roman von Huysmans entstiegen. Kurt Pinthus meinte, es sei ein Buch "das beunruhigt, das niederdrückt, das ein wirreres Grauen in uns weckt als unheimliche Geschichten und spukhafte Abenteuer" (aus dem Nachwort zitiert).

Es gibt eine neueres Ausgabe mit allen Illustrationen der Originalauflage. Meiner fehlen diese, dafür spendierte der Verlag einen fiesen Plastikschutzumschlag, der bei mir allerdings als allererstes einen Gang in die Finsternis antreten mußte.

(Paul Leppin. Severins Gang in die Finsternis. Ravensburg: Peter Selinka, 1988.)

Ex Libris | 04:07h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
fidibus - Sonntag, 6. September 2020, 11:48
Diese Flucht in Bücher ist was typisch männliches, oder? Könnte mir NIEMALS passieren!

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kid37 - Montag, 7. September 2020, 02:06
Keine Sorge, das sieht man nur bei alten, griesgrämigen Männern mit Blog.

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fidibus - Montag, 7. September 2020, 03:26
(Hm. Es war nicht meine Absicht, Ihren Verdruss zu befeuern. Zur Buße verbringe ich nun die Nacht mit selbstkritischem Studium des Buches.)

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kid37 - Montag, 7. September 2020, 13:07
Haha. Ich muß mehr Smileys malen. Jetzt, wo ich den schäbigen Schutzumschlag weggeworfen habe, macht das Buch großes Vergnügen.

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nnier - Montag, 7. September 2020, 13:47
> Jetzt, wo ich den schäbigen Schutzumschlag weggeworfen habe

Dieser Unsinn erinnert mich an die kleinen Sticker auf der Folienhülle bei neu erworbenen Langspielplatten (oder CDs) : Zwanghaft ausgeschnitten und in der Hülle aufbewahrt wg. Sammlerwert, flatterte einem das Ding jahrelang entgegen. Weg mit dem Tand, die inneren Werte zählen.

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kid37 - Montag, 7. September 2020, 15:17
Man sollte aufpassen mit der Fetischisierung solcher banaler Gegenstände. Ich bin da ja simpel gestrickt. Eine regelmäßige Abfolge heller und dunkler, parallel angeordneter Streifen, und ich bin's schon zufrieden. Nicht mal das hatte dieser Schutzumschlag.

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