Angkor Wat



Das ist mein Angkor Wat, sage ich und hole in einer zeigenden Bewegung weit mit den Armen aus. Eine Tempelanlage des industrialisierten Menschen, von Zeit und Patina angegriffen und überwuchert. Tiere und staunende Menschen wandern zwischen den Gebäuden umher, ratlos oft, wofür das eine oder andere Behausung und ganz pragmatischer Zweck war. Man wandert über touristisch erschlossene Wege, dringt tiefer vor ins stählerne Gewirr, weg von der Belustigungsbühne des lokalen Senders, dorthin, wo es stiller und rostiger und weniger zurechtgeputzt ist.




Das ist mein Angkor Wat, wiederhole ich, wie so häufig, wenn ich denn mal einen bildgewagten Vergleich gefunden habe. Grünliche Rostschlieren, wie Dschungelmoos, aus der sauren Luft genährte Algen, die über die einzelnen Stahlsegmente wuchern, eine andächtige Atmosphäre angesichts von Höhen und Dimensionen liegt über dem Ort. Vor dem inneren Auge tauchen umfangreiche Umbaumaßnahmen in meinem Zuhause auf. Förderbänder zwischen Ostflügel und Westflügel schweben mir vor, mein Bad einer Waschkaue nachempfunden, mit Seilzugsystem und Körben für die Leibwäsche und Becken aus Zement auf dem Boden für Füße und Stiefel und den Rest. Bergmannsruh im Bloggertagebau.



Man könnte auch sagen, ein Prater, denn es findet sich bei der Kokerei ein Hochrad mit altertümlichen verglasten Gondeln, gleich neben dem Schwimmbad und der Eislaufbahn. Auch hier spüre ich ein großes Begehren, mein Dach zu entfernen und dieses Riesenrad auf mein Haus zu flanschen, damit ich abends, lange nachdem die Fabriksirene verklungen ist, noch eine mild erleuchtete Runde drehen kann, vielleicht nehme ich jemanden von euch mit oder lasse es bleiben. In einer Gondel ist eine Zapfanlage, in einer anderen eine Eisbar.



Eine ist sicher voll mit Kuchen, denn was wäre ein Ausflug ohne gemütliche Pause. Getrunken wird ein Pott Kaffee aus schwarzer Kohle, frisch von einem rußverschmierten Barista mit Helmlampe gepresst. Ergriffen malen wir uns ein Aschekreuz auf eine nachdenkliche Stirn, buchstabieren "Industriekultur" und schütteln den Kopf über Menschen, die solches nicht schätzen. In Hamburg, sage ich, hätte man einfach alles abgerissen. Auf dem Gelände hätte schließlich auch ein Musical gepaßt.

>>> Zollverein

Ausfallschritt | 03:10h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
nnier - Samstag, 2. April 2016, 15:11
Wunderbar. Schütten, Silos, Förderbänder, man möchte es mit dem Stabilbaukasten nachbauen. Ich schleiche abends manchmal durchs Hafengelände, um ein wenig Rostluft zu schnuppern.

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kid37 - Sonntag, 3. April 2016, 14:37
Auch wenn das Ding im vorderen Teil einen recht gut durchgefegten Anschein macht, strahlt die Anlage insgesamt eine schöne, ungezwungene Selbstverständlichkeit aus. (Darf das Werbeprospekt meinetwegen 1:1 so nachdrucken.) Und man wird ja so klein und andächtig im Schatten dieser riesigen Maschinen und Kolossalarchitektur. Ständig den Kopf im Nacken, wie im Dombau.

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mark793 - Samstag, 2. April 2016, 21:59
Ja, Hamburg, da sagen Sie was. Aber was soll man auch erwarten von einer Stadt, die sich wunder weiß was einbildet und wo der Dom (andernorts eine ehrfurchtgebietende Kirche voller Reliquien und anderer sakraler Schätze) sich als ganz banaler Rummelplatz entpuppt. ;-)

Zum Besuch der Zeche Zollverein konnte ich die beste Ehefrau von allen (die bekanntlich aus Hamburg kommt) noch nicht überreden, aber jetzt kann ich ja auf den Tisch hauen und sagen, keine Ausreden mehr, mein Schatz, selbst der Herr Kid war schon da, und der hatte nun wirklich weitere Wege als wir.

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kid37 - Sonntag, 3. April 2016, 14:42
Immerhin ist mit etwas Glück die Speicherstadt erhalten geblieben, auch wenn der Senat mal was anderes plante statt dieser "ollen Dinger". Der Rest ist Singspiel. (Aber noch Rede ich verächtlich. Wenn erst mein Stück "Die Blogger - das Musical" im Hafen Premiere hat, werde ich wie gewendet erscheinen.)

Fahren Sie da ruhig mal hin, ist ein hübsches Ausfluggelände, und der hintere Teil mit der Kokerei richtig imposant. Die Innereien besichtige ich beim nächsten Mal. Kuchen gibt es dort auch (allerdings nicht den hier abgebildeten, da habe ich geschummelt. Der ist aus Düsseldorf.)

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lorilo - Montag, 4. April 2016, 18:15
"Die Innereien besichtige ich beim nächsten Mal."
Machen. Hinfahren, Führung(en). Mit umfangreicher Industriekulturstättenbesichtigungserfahrung kann ich sagen: Dochdoch. Umbedingt. Die haben auch ständig sehr schöne Ausstellungen und Veranstaltungen, sodass man das durchaus auch als Tages+ & Abendhappening planen kann. Erfahrungsgemäß sind davon selbst Leute beeindruckt und begeistert, die vorher nicht den Hauch eines Interesses zeigten...

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kid37 - Montag, 4. April 2016, 22:23
Bei mir wäre es sicher preaching to the converted. Ich bin jetzt bestimmt öfter in der alten Heimat, da werde ich wohl mal was hinbekommen. Ich bin allerdings noch nicht bereit für "Führungen". Das strengt mich an. Ich lasse mich da überraschen und wünsche mir selbst: "Glück auf!"

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vert - Sonntag, 3. April 2016, 03:37
...oder halt ein businesskomplex, mit schön viel glas und stahl, wie es das noch gar nicht gibt in der stadt.

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kid37 - Sonntag, 3. April 2016, 14:32
Das wäre so schön. (Warten Sie's nur ab. Irgendwann wird die "City Nord" Weltkulturerbe.)

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vert - Sonntag, 3. April 2016, 17:09
drunter wirds nicht gehen. denkmalschutz ist ja mittlerweile abrissgarantie #cityhöfe

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kid37 - Sonntag, 3. April 2016, 19:13
Bei denen war ich lange unschlüssig. Mittlerweile meine ich, als Ensemble sollten sie erhalten bleiben. Vielleicht aber besser saniert, also ohne diese Eternitplatten drumrum.

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vert - Dienstag, 5. April 2016, 03:00
das eternit ist die hölle und muss runter, das gehörte da ja nie hin!

vielleicht fänd ich den abriss gar nicht so schlimm, wenn man nicht einfach alles aus der demokratischen nachkriegsmoderne um des profits willen schreddern würde. oder wenn der dann jetzt doch mal beschlossene architekturwettbewerb für die fläche schon durch wäre, da wüsste man ja was man bekäme...

eine ergänzung des stadtwappens durch eine abrissbirne wäre wirklich gerechtfertigt.

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kid37 - Dienstag, 5. April 2016, 13:18
Es heißt nicht umsonst "Freie und Abrißstadt Hamburg". Herr Teherani hat sich schon eine Idee.

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prieditis - Montag, 4. April 2016, 19:51
Herrlische Fotos!
Die Gondeln kenne ich noch gar nicht, dabei war ich schon so oft da. Zum Rolltreppefahren.

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kid37 - Montag, 4. April 2016, 22:24
Genau. Und abends mit Beleuchtung! Ich kam leider nicht näher an die Gondeln dran, weil dort hinten weite Teile während der Sanierung der Schornsteine abgesperrt sind. Die schreien jedenfalls nach größeren Fotos.

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