At night it gets cold and
You'd dearly like to turn away
The escape that fills
that makes you want to turn on heel
Alone, alone, alone, alone
(New Order,
"Procession")
Heute in der Therapiegruppe sollten wir was malen und frei assoziierte Begriffe dazuschreiben. Ich schrieb "Schlüsselkind", "Holzleiter", Gasmaske" und "Strumpfhalter". Ehrlich gesagt, schrieb ich das nur, um die fette Carola aus meiner Gruppe zu ärgern, die neulich erzählt hatte, wie sie sich mal ihre Strumpfhalter zerrissen hatte, weil sie an einer Holzleiter hängengeblieben war. Ich habe die Geschichte nicht geglaubt, aber Regel Nummer eins lautet "Erzählen - nicht Interpretieren". Dafür ist ja die Therapeutin da, die sich die ganze Zeit über Notizen macht und dann ein paar Fragen stellt.
Ich würde gerne was mit Tina anfangen. Die berichtet ab und an von ihren Albträumen, die ich irgendwie sexy finde, aber Regel Nummer zwei lautet "Don't fuck the Patientenkreis". Ich habe trotzdem vor ein paar Tagen Bernd nach ihrer Nummer gefragt, weil ich weiß, daß er sie hat. Bernd ist Tinas Exfreund und besucht dieselbe Gruppe, weil sie beide das gleiche Problem haben. Einander. Einmal war ich mit Bernd ein Bier trinken und habe ihn über Tina ausgefragt. In seinen Augen lag Hoffnung, in meinen bloß Gier.
Seither weiß ich, daß Tina nie Unterwäsche trägt, und Carola weiß das auch. Deshalb versuchte sie, sich mit dieser Strumpfhaltergeschichte wichtig zu machen. Ständig will sie alle übertrumpfen. Natürlich hat sie von uns allen die schwerste Kindheit gehabt. Einmal lachte ich ihr ins Gesicht, seither ist unsere Beziehung ein wenig gespannt. Heute fing sie an zu heulen, als ich meine Schlüsselwörter vorlas. Sie beschwerte sich, ich wolle mich über sie lustig machen, dabei ahnte sie gar nicht, daß sie recht hatte. Sonst hätte sie das erste Mal im Leben wirklich geheult.
Patrick drohte heute damit, die Gruppe zu verlassen. Das macht er ungefähr alle zwei, drei Wochen, obwohl er für sein pathetisches Gehabe nur Häme von Tina und Carola erntet. Ich glaube, Bernd hat Tina nie richtig rangenommen, dabei ist sie geil bis unter die Haarspitzen. Leider findet Tina meine Probleme langweilig, weshalb ich die gerne ein wenig aufbausche. Tina ritzt sich immer die Unterarme und hat dadurch alle Aufmerksamkeit für sich. Nur Bernd schaut dann beleidigt aus dem Fenster. Carola erschien in der nächsten Stunde mit einem verbrühten Bein, was sie stolz herumzeigte und dabei ihren Rock ein wenig zu weit hochzog. Ich sagte trocken, man könne auch verbrühte Beine rasieren - schon allein, weil ich mal gelesen hatte, daß zynische Männer auf manche Frauen anziehend wirken. Aber nur Tina kicherte anerkennend. Carola fing an zu weinen, und die Therapeutin schalt mich vor allen Leuten.
Neulich ging es um Wünsche. Ich sagte, ich würde gerne mal einen Kuchen mitbringen. Das fanden alle toll. Ich sagte, ich würde aber Rasierklingen darin einbacken. Daraufhin mußte ich den Raum verlassen. Die Therapeutin meinte nachher, meine sozialen Kompetenzen seien "fragwürdig". Ich sagte, das sei doch egal, ich ginge doch eh immer allein nach Hause. Sie wurde etwas lauter. Fragen wie, was eigentlich mit mir los sei, was ich mir einbildete usw. schallten durch den Flur.
Ich war etwas betroffen, obwohl ich weiß, daß die Therapeutin große Stücke auf mich hält. Oder vielleicht gerade deshalb. Dann mußte ich in die Tanzgruppe zur Körperarbeit. Das ist ein bißchen dämlich, wir müssen da zu Musik Szenen wie "Speck in der Pfanne" oder "Die Geburt" mimisch nachstellen.
Die Tanztherapeutin ist Tantrikerin und hat schon mit jedem und mit jeder aus der Gruppe was gehabt, außer mit mir. (Einmal wollte sie sich an einem Sonntag mit mir verabreden, ich sagte ihr aber, ich sei Katholik und müsse am Sonntag den ganzen Tag in die Kirche. Sie ist nicht getauft und glaubte mir jedes Wort.)
Am liebsten bin ich in der Tränengruppe. Das heißt "Affektive Emotionskonvulsionstherapie" und ist so gruppendynamisches Heul-Psychodrama. Man sitzt dabei im Kreis, hält sich die Hand und jeder versucht, eine möglichst traurige Geschichte zu erzählen. Ich gewinne jedes Mal.
Die Frau eines Kollegen punktet bei solchen Sad-Story-Contests regelmäßig mit der Episode, wie sich ihr Vater mit ihrem Brüderlein auf den Arm vor einen Zug geworfen hat. Schwer zu toppen, in der Tat. Aber der Effekt nutzt sich halt etwas ab mit der Zeit...
Überhaupt ist ein geregelter Wochenablauf ein profundes Stützkorsett fürs Leben. Deswegen schreibe ich auch so gern für Wochentitel. Wenn meine Geschichten in 14-täglichen oder Monatstiteln erscheinen, hab ich am EVT längst vergessen, was ich da vor Wochen zusammengeschrieben habe. Wenn dann böse Anrufe kommen, hab ich echte Mühe, den Faden wieder aufzunehmen...
Auch wenn ich mit organisierten Religionen herzlich wenig am Hut habe: Die Katholen sind nun mal das Original, und der Polenpaule rult. Alles andere ist sektiererischer Abklatsch...
Aber darüber an anderer Stelle mehr bei passender Gelegenheit. Und damit gebe ich zurück ins Nachtjournal...
Als Sie da waren erzählte ich, glaube ich, von meinem Vater, der alles, ja wirklich alles - und ich meine tatsächlich ALLES -, was es im Haushalt zu reparieren galt, mit Pflaster reparierte. Ich wuchs in einer gepflasterten Welt auf.
Natürlich bin ich neugierig. Wer ist die Therapeutin? Wie sieht es jetzt in Kids Mailbox aus?
Vielleicht aber erzählen Sie irgendwann einmal andere Geschichten, ohne Rasierklingen, ohne Verletzungen. Vielleicht verblasst der Satz "dann erzähl's mir halt nochmal" irgendwann. Ich jedenfalls würde gerne schönere Geschichten von Ihnen lesen.
es gibt noch andere sonnensysteme, ausserhalb klein bloggersdorf.
( gottseidank. und das sagt eine protestantin. )
Ich habe ja mal gehört, Regel Nummer zwei laute "Lesen - nicht Interpretieren" oder so ähnlich. Zuviel Grübelei ist ein erstes Anzeichen für sowas. Herr Kid wollte womöglich nur alle mal in die Lachgruppe schicken. Die gibt's nämlich auch. Allerdings haben die da keine tantrische Therapeutin. Vielleicht ist die Lachgruppe deshalb nicht so nachgefragt. Dabei ist die richtig gut.
Vielleicht verblasst der Satz "dann erzähl's mir halt nochmal" irgendwann. Manche Sätze verblassen nie, vor allem die unbedacht geäußerten, jene, die gar keine Angriffe sein sollten, in ihrer ruppigen Achtlosigkeit aber um so entlarvender sind. Aber auch darum lassen sich irgendwann lustige Geschichten ranken.
Wie Väterchen Kid mir gegenüber in seiner Güte immer weise bemerkte: "Hinterher lachst du drüber."
Das ist doch jetzt wieder eine Metapher, die ich nicht verstehe. Bestimmt was
Gibt es eigentlich den Begriff Lotophagie? Das klingt allerdings nach etwas Sexuellem. Ist aber alles ganz harmlos.
Wer die Lotusblüte isst, vergisst, was er vergessen will. Sie tilgt alle Schmerzen und Pein aus dem Gedächtnis.
Süßspeise essen als sexueller Fetisch? Klar gibt es das, darüber haben wir doch in letzter Zeit hier öfter geredet.
[Edit: Sie sind gut. Für die Lotusblüte langt's zwar nicht ganz, aber so 'nen Fruchtzuckerkuchen hätten Sie sich dafür eigentlich verdient.]
Ein Grund mehr, nicht mehr auf Bloggertreffen zu gehen. Wahrscheinlich ziehen sich da alle aus und richten ihre WLAN-Antennen-Nupsis aufeinander. Bah.
Beachten sie bitte auch, daß ich mich maßgeblich in diese Geschichte eingebaut habe. Nicht, daß es wieder heißt, "Ach, und Sie, Herr Kid, Sie sind natürlich wieder jemand besseres?"
Den meisten Lesern ist hoffentlich der nachfolgende Text entgangen, der hier heute morgen zwischen vier und sieben Uhr zu lesen war. Der war nämlich ganz schön psycho-pathetisch und wehleidig und hätte mich bestimmt in die Klapsmühle gebracht. Aber nun ist er weg.
Beim nächsten Anfall, vielleicht.
Ach ja: Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen oder solchen, die sich für lebende oder tote Personen halten, sind zufällig und nicht beabsichtigt. Bei der Produktion wurden keine Tiere geschädigt.
Gruppen sind oft hilfreich. Und sei es nur, um die Augen zu verdrehen.
So, liebe Leserschaft, Preisgebote an mich.