Exorcism of the Last Painting I ever made

Naked, save for a thin gold chain around her neck, constantly available for public scrutiny [...] through sixteen fish-eye lenses set into the walls of the space
she occupied, Tracey Emin spent three weeks of February 1996 cloistered within
a studio-cum-living space[...].
(Chris Townsend, "Heart of Glass". In: Merck/Townsend (Hrsg.). The Art of Tracey Emin. London, 2002.)

Die britische Künstlerin Tracey Emin sollte ein Blog führen. "I always say if I didn’t make art, I’d probably be dead", sagte sie einmal. Welcher Jammerblogger kennt das nicht. Auch spektakuläre Ausbrüche unter Alkoholeinfluß lassen in mir eine bekanntlich selten gezupfte Saite klingen.

In der Austellung Emotion konnte ich einmal hineinlugen in das berühmte bestickte Zelt. Der Titel dieses Objekts Everyone I Have Ever Slept With 1963-95 (1995) wird ja häufig mit "Alle meine Liebhaber" falsch übersetzt. Dabei ist (oder "war" muß man besser sagen, denn das Zelt wurde beim Brand der Sammlung Saatchi vernichtet) dies ein ganz unschuldiges Werk in der Tradition der Inventarlisten des American Journals. Sicher sind alle ihre Liebhaber dort verzeichnet, aber auch der Name ihrer Mutter und die ihrer abgetriebenen Feten. Schlafen, das Bett oder Zelt teilen ohne übertragenen, romantischen Überbau, sondern als nüchterner, emotionsloser Tätigkeitsbegriff.

Was mich an Tracey Emin anrührt, ist ihre Rücksichtslosigkeit. Schonungslos steht sie Ihrem Publikum gegenüber (das nicht gerufen wurde, sondern sie gefunden hat) - sich selber aber auch. Bis hin zur unerträglichen Albernheit und Selbstentblödung. Auch das kennen wir vom Bloggen, das Selbst-Referentielle, das Selbst-Vergewissernde. Die Aufmerksamkeit, die Tracey Emin "genießt", ist eine Mischung aus Neugierde, Voyeurismus und Projektion und Selbst(be-) spiegelung. Dabei streift der Schmerz des sich selbst sezierenden Künstlers den des sich selbst erkennenden Betrachters - und landet häufig genug im Treibgut des Banalen: "Ist es von Woolworth (3,99) oder ein echter Emin (1000,-)?" fragt ein bekannter Kunst-Cartoon und zeigt eine getragene Unterhose.

Lebst du noch oder bloggst du schon? könnte man den Verständnislosen entgegenhalten. (Selbst-)Entblößung, Grenzerforschung, Bloggen als Kontaktanzeige - manchen Traditionalisten möchte man gleich Emin ihrem Malerfreund Billy Childish entgegenrufen:
"You are stuck! Stuck! Stuck!" (Der, ebenfalls nicht auf den Kopf gefallen, sogleich die Bewegung der "Stuckisten" ins Leben rief.) Emins Karte im durchaus satirischen Künstlerquartett liest sich jedenfalls wie ein Blogmanifest.

Flanieren | 21:53h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
modeste - Montag, 7. März 2005, 10:57
An solche Überlegungen zu der - von mir außerordentlich geschätzten - Emin, schließt sich natürlich zwanglos die Frage an, ob das Blog als Kunst, also als geformte Selbstentblößung, auch eine entsprechende Rezeption genießen kann und soll. Wäre es also möglicherweise denkbar und sinnvoll, die Selbstentäußerung der geschätzten Mitblogger zum einen mit dem selbstverständlichen Akt persönlicher Anteilnahme zu begleiten, zum anderen die Form gesamthaft aufzunehmen und anhand artistischer Maßstäbe zu bewerten und im Ergebnis durch die Kommentare aus dem Kontext der ja teilweise eng vernetzten Blogosphäre ein neues, sich stetig veränderndes Gesamtkunstwerk zu schaffen, das einer Kunstkritik unterläge, den Kontext der einschlägigen Kunstgeschichte nicht außer acht lassen könnte etc.?

Keine Ahnung, ob das wünschenswert wäre. Aber wäre es möglich?

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kid37 - Montag, 7. März 2005, 13:32
Dieser Gedanke beschäftigt mich in letzter Zeit. Denkbar sind ja verschiedene Ansätze, nicht nur Confessionalism oder Selbsterforschung wie bei Emin.

Bislang stopft man Blogs rezeptionsästhetisch doch immer in die Schubladen verwandter Medien, zumeist also literarische ("Online-Tagebuch", "Journal"). Je artifizieller, verdichteter Stil und die, öh, serielle Performanz daherkommen, um so eher greifen dann Konzepte wie "Seifenoper" oder "Telenovela" (dieses vielschichtige Beziehungsgeflecht zwischen Schreiber und Leser in den Kommentaren und, auf weitere Ebenen, per Mail und im realen Kontakt).

Analog kann man manche Blogs auch als "Künstlerbücher" betrachten, also die, die stark auf Grafiken/Fotos setzen. (Wenn heutuztage schon die "Ausstellung" das Kunstwerk ist, gälte dies natürlich auch für Foto-/Grafikblogs .)

Dann frage ich mich aber, ob nicht auch etwas eigenes entsteht, zumindestens hier und da. So eine Art soziale Plastik, dynamische Prozesse und beuys'sche "Wärmepumpen". Die dann wiederum mit den anderen kommunizieren, Verlinkung schaffen usw.

Ich sähe das hermetische Café ja gern als eine Art Merzbau. Hier was ankleben, da was dazustellen, dort was ausschneiden. Für andere mag es eher eine ungeordnete Müllhalde sein.

Ich habe da keinen gezielten Ansatz, ich lasse das organisch wachsen. Aber der Gedanke ist reizvoll.

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modeste - Montag, 7. März 2005, 14:55
Dieses Eigene des Blogs, das von der sozialen Einbindung und der starken Interdependenz ausgeht ist natürlich der interessanteste Faktor. Gerade in denjenigen Blogs, denen zumindest auch ein gewisser Formwille zugrunde liegt, spürt man manchmal das Überschreiten jener filigranen Grenzen, hinter denen Kunst und Leben eine merkwürdige und manchmal etwas beängstigende Fusion eingehen.

Dass hinter Ihrem Merzbau (ein schönes Bild, übrigens fast das einzig sehenswerte in Hannover) letztlich zumindest auch ein Gestaltungswille steht, ist natürlich kaum zu übersehen. Interessieren würde mich aber auch einmal, wie der Rest der Blogosphäre diese Seite des eigenen Treibens beurteilt. Als bekennende Seifenoperproduzentin bin ich da vermutlich nicht so ganz die passabelste Diskutandin, aber was sagt der Rest? Wäre das nicht einmal etwas für die Blogbar?

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kid37 - Dienstag, 8. März 2005, 00:56
das Überschreiten jener filigranen Grenzen... Ja, genau darum geht es mir. Das Ab- und Entlangschreiten solcher Grenzen. Experimente. Aber das sind alles Gedankensplitter, nichts, was man ausdiskutieren oder gar konzeptionell planen könnte. Das sieht man alles erst retrospektiv.

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modeste - Dienstag, 8. März 2005, 15:17
Nein, um Planung geht es dabei nicht, aber auch nicht nur um Betrachtung ex post. Interessant fände ich, ganz an der Oberfläche, welches Grundkonzept und welche Funktionen hinter dem jeweiligen Blog stehen, und welchen formalen Ausdruck diese Konzepte finden. Das Überschreiten der Grenzen, das Nichtsichtbare an der Außenhaut der Form, kann man vielleicht tatsächlich erst im Nachhinein oder vielleicht gar nicht in den Bereich des Sagbaren ziehen. Aber der Versuch wäre interessant.

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pahh - Donnerstag, 18. August 2005, 15:29
herr kid, ich bin beeindruckt! genauso ist das.

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