What difference does it make?
I mean, both obsessions are impossible
to capture, and trying to do so will only
leave you dead along with everyone else
you bring with you.
(Scully in "Quagmire")
Absent. Ein UFO, so ist zu vermuten, hatte mich die Tage entführt und in die Zeit zurückgeworfen. Gestern vor 20 Jahren nämlich war der Tag, an dem sich das Fernsehen für immer änderte. Oder wie es neulich hieß: davor gab es nur "Matlock", dann kam "Akte X". Am 10. September 1993 wurde die erste Folge dieses US-amerikanischen TV-Melodrams ausgestrahlt, von der alle zuerst dachten, es ginge darin um Ufos und Aliens, Monster, Verschwörungstheorien und geheimen Regierungsaktivitäten, die sich gegen die Bevölkerung richten. Dinge, also, von denen wir alle wissen, daß es sie nicht gibt.
Jetzt kann man natürlich sagen, "Mensch, Moby Dick, das ist so 19. Jahrhundert!" oder "Akte-X, so 90er-Jahre!", unterschlägt dann aber entweder die Wahrheit, sein popkulturelles Wissen oder, schlimmer, die eigene Geschichte. So waren es Autoren von Akte-X, die später hochgelobte Serien wie Homeland oder Breaking Bad schufen, und selbst Großregisseure wie Ridley Scott bedienten sich für (den insgesamt leider recht mäßigen) Prometheus eifrig bei den X-Akten, von einzelnen Ideen wie dem "schwarzen Öl" bis hin zur Übernahme kompletter Sequenzen aus dem ersten Kinofilm.
Akte X (dazu aber später mehr) hat am Ende Wahrheiten auf mehreren Ebenen gefunden. So wurde tatsächlich aufgedeckt, daß es eine Regierungsverschwörung gibt, die wiederum deckt, daß an der Bevölkerung medizinische Experimente durchgeführt werden, Big-Data gesammelt und... na ja, Dinge, die sich so Spinner, die beim Fernsehen arbeiten, halt ausdenken. Ein bißchen Quatsch ist immer. Im Serienableger von den "Einsamen Schützen", wo es um die drei Hacker aus der Hauptserie geht, wurde im Frühjahr 2001 sogar eine Folge gezeigt, in der ein Flugzeug in das World Trade Center... na ja, Quatsch halt. (Die Folge sorgte trotzdem für eine Menge Irritationen auch bei sogenannten "höheren Stellen".)
Wichtiger, und das muß man keinem Fan oder aber mir erklären, ist natürlich die andere Wahrheit, die sieben (plus zwei weitere) Staffeln lang verfolgt wurde. Von den FBI-Agenten Edward Sno Fox Mulder und Dana Scully, die mit riesigen Drahtlostelefonen und ebenso großen Brillen (ja, es waren wirklich die Neunziger) das taten, was man zu zweit so sieben Jahre lang erleben kann. Sie unternahmen Ausflüge in die Umgebung, kleinere Städte und Dörfer meist, besichtigten dort einsame Gehöfte oder verlassene Industrieanlagen, übernachteten draußen oder in Höhlen, trafen verschrobene Gestalten, hörten sich Legenden der Umgebung an, jagten Tiere, Außerirdische und Verbrecher, überlebten Krankheiten, richtig bösartige Krankheiten, mörderische Bienenschwärme, tödliche Infektionen und Verbrennungen, Schußwunden und Krankenhäuser. Am Ende gibt es ein Kind, dann aber (wir sind im verflixten siebten Jahr) auch die Trennung, Mulder muß mal Zigaretten holen, einen wichtigen Auftrag erfüllen, untertauchen, kurz: die beiden durchlitten Dinge, wie jedes andere Paar auch.
Eine dramatische Liebesgeschichte also, verpackt in eine freilich absurde Rahmengeschichte, nach der es (hahaha) eine Verschwörung geben soll, bei der die Regierung (also bitte!) die eigene Bevölkerung an extraterritorial operierende Organisationen verrät. Und weil es eine Liebesgeschichte ist, kann sich auch jeder damit identifizieren. Selbst Menschen, die damals, also den furchtbar passé-seienden Neunzigern, noch gar nicht geboren oder viel zu jung für Akte waren. Wer bei Youtube mal unter "X-Files" sucht, wird Tonnen von Videos entdecken, die - auf der Suche nach der Wahrheit - Schnipsel und Fakten aus der Serie neu zusammenschneiden, ikonische Szenen zusammensuchen wie die berühmte Tanzszene aus "The Post-Modern Prometheus" oder die berühmte Szene, in der Mulder Scully zeigt, wie man Baseball spielt, oder die berühmte Szene... überhaupt: die Blicke. Also die berühmten Blicke. Es gibt Tonnen von Fan-Videos, die sich auschließlich mit den Blicken beschäftigen, die sich Mulder und Scully im Laufe der Jahre zugeworfen haben.
The Philosophy of the X-Files versammelt hochinteressante Essays über Denkmuster und Struktur der Serie, so wie den Aufsatz über Abduktion als dritte Möglichkeit der Schlußfolgerung neben Induktion und Deduktion - und zugleich ein hübsches Spiel mit einem zentralen Motiv der Serie, der alien abduction. Mulder, der übrigens am 13.10. Geburtstag hat, weil die Mutter des Serienschöpfers Chris Carter an diesem Tag Geburtstag hat*, was eine interessante Verbindung ist, weil nämlich Mütterchen Kid... aber gut, es hängt eben alles mit allem zusammen. Mulder also gilt seinen bausparkassenbiederen Kollegen beim FBI ja als ein bißchen überdreht mit seinen Fotosammlungen von toten Kühen und Geraune von unerklärlichen Phänomenen, ist im Grunde ein ganz dufter Typ, der sein Büro im Keller hat ("weil mich keiner leiden kann", wie er etwas selbstmitleidig sagt) und ganz in seiner Arbeit aufgeht. Der also liebt, was er tut und tut, was er liebt.
Scully ist eine Frau wie du und ich, ihre Arbeit schrieb sie über Einsteins Ideen zum "Zwillingsparadoxon", selbstverständlich wie wir alle mit Auszeichnung, wurde dann, was modernen Frauen immer zu empfehlen ist, wegen der vielen wehleidigen Männer und Unfällen im Haushalt, Medizinerin und ist folglich eine hochpatente, streng rational denkende Kollegin und Kritikerin an Mulders Seite. (Irgendwann, in einer emanzipatorischen Sequenz der Serie, begehrt sie auf, weil sie nie einen eigenen Schreibtisch besessen habe - auch das einer gewissen Lebens- und Serienwirklichkeit abgeschaut.) Gegen Ende der Serie zeigt sie nebenbei, wie schwierig es übrigens ist, ein kleines Kind allein aufziehen zu müssen und gleichzeitig als FBI-Agentin zu arbeiten.
Diese höchst unterschiedlichen Denkweisen führen vor allem zu Beginn zu Reibereien, aber auch später noch zu kritischen Auseinandersetzungen und Streitereien (bei denen man als Zuschauer ja dazwischenfahren und alle unter die kalte Dusche schicken möchte, aber egal), wenn Scully als Pathologin bis zu den Elllenbogen in irgendwelchen Kadavern oder Leichen steckt und Fakten sammelt, während Mulder seinen schrägen Hypothesen nachhängt. Aber auch zu bissigen Witzeleien, wie in der Szene, in der Mulder Scully parodiert. Am Ende einer Reihe höchst unerklärlicher quasi-apokalyptischer Ereignisse, angesichts derer sich Scully aber eisern "wissenschaftlich" zeigt, fallen plötzlich hunderte tote Frösche vom Himmel. Mulder sagt so was wie, sollen wir jetzt was Essen gehen? Scully ist total entgeistert und ruft, Mulder, hier sind gerade jede Menge tote Frösche vom Himmel gefallen. Und Mulder, ganz trocken, das läge wahrscheinlich daran, daß sich ihre Fallschirme nicht geöffnet hätten. Kommt Leute, das ist sehr, sehr hübsch.
Überhaupt der Humor. Kenne ich einerseits keine Serie, in denen den Helden physisch und emotional so brutal und übel mitgespielt wird (und die Staffeln 4 und 5 sollte man keinesfalls allein im Dunkeln schauen), sind es die vielen ironischen und selbstironischen und parodistischen Folgen, die zu Klassikern der Serie geworden sind. So gibt es eine "Jackass"-Parodie, eine "Reality-TV"-Folge, in der ein TV-Team Mulder und Scully auf Schritt und Tritt folgt, eine Episode, in der Hollywood einen "Film" über die berühmten Ermittler dreht - kurz, wo sich das Medium selbst bespiegelt. Höhepunkt ist darunter wohl die groß-großartige und komplett in Schwarzweiß gedrehte Folge "The Post-Modern Prometheus", in der "Frankenstein" nacherzählt wird. Das ist auch die Folge, in der Mulder und Scully miteinander Tanzen gehen, etwas, das ja nicht alle Paare miteinander, manchmal aber mit anderen machen.
Nach wie vor schwebt die Idee eines dritten "Akte-X"-Kinofilms wie ein irrlichterndes UFO im Raum. Der könnte die vielen immer noch losen Fäden der Serie zusammenführen und neue Fragen aufwerfen. Dieser Film war ursprünglich mal zum 21.12.2012, dem Weltuntergang also, geplant. Aber eine Regierungsverschwörung... nun ja.
>>> Mitschnitt der Frage- und Antwortrunde zum 20. Jubiläum mit Gillian Anderson, David Duchovny, Chris Carter und anderen auf der ComicCon 2013
>>> Dean A. Kowalski (Hrsg.). The Philosophy of the X-Files. (Lexington: The University Press of Kentucky, 2009. Erw. Aufl.)
>>> Zusammenschnitt von Scullyismen und Mulderismen
Ich schaue quasi keine Serien, ich kenne einzelne Folgen verschiedener Hits. Mir kommt das alles einen Tick zu sophisticated, zu gemacht, zu sehr an den Tricks of the trade entlangkomponiert vor, um mich wirklich zu packen. Das ist alles sehr clever, Dexter und Breaking Bad usw. Aber eben nur das. Twin Peaks, so finde ich, ist eher schlecht gealtert.
Ach, als ob es nicht zuvor auch schon andere FBI-Spezialagenten im Fernsehen gegeben hätte und Luftwaffenmajore, die beim "Projekt Bluebook" involviert waren und damit den popkulturellen Boden für die "X-Files" bereitet haben.
Aber da wollen wir jetzt mal nicht so sein. Mehr erschüttert mich, dass das alles schon wieder soooo lange her ist. Wobei ich (ohne in einschlägigen Fachportalen nachzugucken) mich zu erinnern meine, dass die Serie hierzulande erst in der zweiten Hälfte der 90er anlief.
Natürlich fällt nichts einfach so vom Himmel, nicht einmal Aliens mit ihren Raumschiffen (die in Akte X weit seltener vorkommen als viele denken). Aber im Gefolge von Twin Peaks, deren Agent nur seine "Diane" hatte, waren die X-Akten in ihrer selbstreflektiven Art schon sehr neu in ihrem Genre. Überhaupt startete die den "Mystery"-Boom.
Ich denke mal Mitte der 90er ist die Serie in Deutschland gestartet. Definitiv deutlich vor 1996, da lege ich mich fest.
Ja, da ist schon was dran. Was zum Teil auch daran liegt, dass TP irgendwann im Verlauf der zweiten Staffel mehr oder weniger an die Wand gefahren wurde, wohingegen die X-Files ihr Potenzial voll ausschöpfen konnten. Ich habe Akte X eine zeitlang ziemlich regelmäßig geguckt, aber ich war nicht längst nicht so süchtig wie zuvor bei Twin Peaks, das in der Hinsicht für mich völlig singulär blieb. Vielleicht hat Twin Peaks mit seinem frühzeitigen und vergurkten Ende ja geholfen, mich gegen weitere Schübe von Seriensucht zu immunisieren.
Mit der zeitlichen Einordnung haben Sie auch recht, Serienstart war hierzulande im September 1994, wenn ich das richtig nachgeguckt habe.
Und ja, die Sehgewohnheiten verändern sich, selbst bei mir, der ich seit mittlerweile elf Jahren kein Fernsehen mehr gucke (und auch keine Originalton-DVD-Sets oder Hulu-Downloads). Es diffundiert, wie Sie so treffend anmerken, trotzdem noch genug in einen hinein auf verschiedenen Wegen, um sehen zu können, dass Twin Peaks in weit höherem Maße aus der Zeit gefallen zu sein scheint als Akte X.
In gewisser Weise hat Akte X, was das ewige Aufrechterhalten eines zugrundeliegenden Spannungsbogens angeht, liefern können, was Twin Peaks nur versprochen hat, aber nicht halten konnte. Vielleicht würde ich das heute, wenn ich mir das ganze DVD-Paket zur Brust nähme, auch anders (sprich: positiver) sehen. Aber damals, als die Akte X im TV lief, hat es mich irgendwann ermüdet, darauf zu warten, ob aus irgendwelchen Andeutungen mal noch tatsächlich was folgt, ob Scully und Mulder irgendwann
Tatsächlich gingen das Unheimliche und das Heimliche eine äußerst belebende Liaison ein.
Neulich habe mich mit einem Freund darüber unterhalten und dabei habe ich erfahren, dass die DVD´s der Captain Future-Serie ab 200,-€ starten. War ich erstaunt aber auch bestätigt: Guter Geschmack kostet, manchmal auch Nerven. ;-)
PS Ich mochte von AX nur die ersten Staffeln, danach wurde es mir zu kompliziert, was aber nur an der Schlichtheit meines Charakters liegt und daran, dass dieser mit dem tatsächlichen Leben zur damaligen Zeit schon überfordert war.
Aber Western von gestern regelte, keine Frage. Ebenso wie Väter der Klamotte und Männer ohne Nerven.