Beschwingte Abende

Oft lese ich ganze Seiten und weiß gar nicht,
was ich gelesen habe. Ich fange dann noch
einmal von vorn an und entdecke, daß das
schön ist, was ich gelesen habe. Es handelt
von Menschen, die unglücklich sind.

(Thomas Bernhard. Frost. 1963.)



Von einem freundlichen Kollegen bekam ich dieser Tage eine Reihe wunderbarer Filme aus dem Schaffen Ulrich Seidls geschenkt - muntere Unterhaltung für lebensbejahende Heimkinoabende, meinte er, Berichte aus einem "kalten Österreich", genau das Richtige für mich. Kann ja gar nicht sein, denkt man, aber dann zitiert der Klappentext zu Tierische Liebe die Tiroler Tageszeitung: "Mehr Kälte, Einsamkeit, Schrecken ist in einem einzigen Film nicht vorstellbar" - und eine solche Erfahrung will man sich besser nicht entgehen lassen.

Seidls Import Export hatte mir einst ganz gut gefallen, aber aus einem nicht mehr nachvollziehbaren Grund bin ich dem wunderbaren Werk dieses Mannes bislang nicht weiter hinterhergestiegen, Versäumnisse, die es nachzuholen gilt. In kargen, streng gebauten Bildern, mit Sets, die auf wenige Zeichen und Farben reduziert sind, weist Import Export Seidl als eine Art österreichischen Kaurismäki aus, mit einem gewissen Leerlauf in der Handlung vielleicht, eine stilisierte Langeweile, ausgefüttert durch die strenge Symmetrie der ruhigen Bilder.

Noch weitaus beeindruckender aber finde ich die Doku Tierische Liebe, ein Film, der einen rasch auf eine Weise bannt, wie es nur der Grusel des rätselhaft Authentischen vermag. Echt oder geschauspielert, echt oder geschauspielert? fragt man sich ein ums andere Mal, wenn man den Blick in abgewrackt wirkende Welten wagt, einem trostlosen Wien jenseits der Zuckerbäckeridylle, in dem einsame, gebrochene Gestalten in ihren Hunden, Kaninchen oder Frettchen die einzigen Freunde und Partner finden. Die sorgfältig durchkomponierten Bilder (Kamera: Peter Zeitlinger, Michael Glawogger, Hans Selikovsky) machen dabei aus wirklich jeder Einstellung ein minimalistisches Tableau, eine berückende Künstlichkeit, die den Film über übliche Sozialschmuddel-"Dokumentationen" heraushebt und überhaupt erst erträglich macht.

Wer ein wenig im Presseheft stöbert, versteht die langwierigen und aufwendigen Vorbereitungen, die Seidls Stil der "inszenierten Wirklichkeit" ermöglichen. Natürlich schleicht sich dennoch immer wieder unbehaglich die Frage in den Raum nach dem Nutzen, Benutzen und Ausnutzen der allzu leicht als "Material" zu verstehenden Realität - also den realen Schicksalen und Menschen (die sich meist deutlich nicht auf Augenhöhe mit Regisseur und Team befinden). Das Ergebnis bleibt dennoch ein erschreckendes, intimes und beeindruckendes Dokument, das unter der Oberflächenschicht des Bizarren und Skurrilen befremdlich und zugleich verstörend berührend ist.

(Tierische Liebe. Österreich, 1996. Regie: Ulrich Seidl.)
(Import Export. Österreich 2006. Regie: Ulrich Seidl.)

>>> Webseite von Ulrich Seidl

Super 8 | 14:00h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
c17h19no3 - Samstag, 24. April 2010, 13:50
Ich bin seit "Hundstage" ein großer (1,80m) Uli-Seidl-Fan .

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kid37 - Samstag, 24. April 2010, 18:49
Ah, endlich eine Bekennende! Hundstage (wieso habe ich den eigentlich nie gesehen?!?) und Models liegen noch hier, ich habe tolle Entdeckungen also noch vor mir.

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c17h19no3 - Samstag, 24. April 2010, 22:08
Sie haben "Models"?! Oh. Der ist sehr, sehr verstörend-toll, fand ich. (Dürfte ich den vll. raubkopieren? Oder möchten Sie eventuell sogar einen Blogger-Uli-Seidl-Fan-DVD-Abend machen?)

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kid37 - Sonntag, 25. April 2010, 13:27
Wenn der wieder so schmerzhaft aus dem Leben gegriffen ist, sicher ein Erlebnis. Vielleicht eine Idee für einen Guerilla Cinema-Abend vor den Deichtorhallen.

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c17h19no3 - Sonntag, 25. April 2010, 16:59
nette Idee. gibt es in hamburg sowas? ich kenne das nur aus der alten heimat.

die auswahl des ortes ist natürlich von entscheidender wichtigkeit. an den deichtorhallen erreicht man sicher die meisten kunstbegeisterten. und wer beim film aktiv schmerzvoll mitleiden möchte, kann kurz nach st. georg rüberschlendern und sich döner, drogen und dosenbier kaufen.
falls man allerdings einen katharsiseffekt verfolgt, sollte man gerade bei "models" das guerillakino vielleicht eher nach eppendorf oder schn pöseldorf-harvestehude verlagern...

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kid37 - Montag, 26. April 2010, 12:37
Ich kenne das hier nur als "hin und wieder". An eine kathartische Wirkung glaube ich - jetzt mal unbesehen - nicht. Heute ist doch alles irgendwie cool. Hauptsache, die Kamera läuft. ("Mr. DeMille, ich bin bereit für die Großaufnahme!")

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lorilo - Dienstag, 27. April 2010, 14:00
Geklaute Sätze:
"Ich bin seit "Hundstage" ein großer (1,80m) Uli-Seidl-Fan . "
Gilt hier auch so, bis auf den cm.

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kid37 - Mittwoch, 28. April 2010, 01:01
Ein Gestalter, so was gefällt mir sehr.

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sweetmaker - Donnerstag, 6. Mai 2010, 01:23
wir sagen dazu auch "sozialporno"

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kid37 - Donnerstag, 6. Mai 2010, 02:40
Herr Sweetmaker! Das ist ja mal eine Überraschung. Ich denke, verglichen mit dem Privat-TV-"Doku"-Trash allüberall sind seine Filme von großer ästhetischer und berührender Kraft.

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