Alle Herzen glitzern wie Gold

Free Graphic by Colleen FryRock'n'Roll war früher... anders. Heute, im Heim von Glaube, Liebe, Hoffnung, ist Rock'n'Roll, wenn einem die Ärztin das Rezept per Post zuschickt, nachdem man seine Wünsche auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Es klang zwar nicht nach einem kehlig gesprochenen He, Babe, ich brauche meinen Stoff, aber irgendetwas anderes in meiner Stimme muß sie berührt haben. So ließ sie mich nicht vor einem schnell hingeschmierten Urlaubsschild an der Praxistür auflaufen, gellte auch nicht telefonisch zurück: Min Jong, beweg' dich gefälligst her, wenn du was von mir willst. Nein, sie gab das größte Geschenk, sie dachte mit! Herrlich, wenn man nicht jede Gefälligkeit einklagen muß. Bei so viel Glück, möchte ich meinen, packen die es mir in der Apotheke noch in Glitzerfolie ein, wenn ich dort anrufe. Vielleicht könnte ich neben der anderen Arbeit noch eine Telefonsexnummer betreiben, angesichts der offensichtlichen Magie derzeit in meiner Stimme. Nun gut, das ist ein altmodischer Gedanke.

In der hermetischen Seemannskneipe saß ich einst in tiefem Gedanken. Mir war so Schiff ahoi zu Mute, wie lange nicht mehr. Wegen Aussatz über Bord geworfen wie ein Eimer voll Bilgewasser, hockte ich nun bei Schäbig & Tochter, malte mit dem Finger obszöne Figuren in die Bierlache auf dem Tresen und gab dem Simpel, der mit Eimer und Wischmop Reste, Gäste und Geziefer zusammenkehrte, fünfzig Pfennige für die Jukebox. "Spiel das Nebellied für mich", rief ich, schon ein wenig angetrunken. Langsam, viel zu langsam schlurfte "He du!", wie er genannt wurde, zum Plattenautomaten und drückte K37. Mit noch ächzenderen Bewegungen als ich meine Zeichungen in die Lachen wischte, setzte sich der Plastikarm in Bewegung, das Plattenkarussell wanderte herum und mit einem leisem Plopp fiel die schwarze Scheibe herab. Es knisterte und knackte, so sehr hatten klebrige Alkoholschwaden und heftiges Gerumpel an der Maschine in Folge des ein oder anderen entgleisten Kneipen-Shimmys oder Wirtshaus-Shakes dem Vinyl zu schaffen gemacht. Eine wehmütig gezupfte Gitarre setzte ein, dann die Stimme von Marina, ein Mädchen wie Zimt und Vanille. Sie beschrieb die Nacht am Kai und behauptete, immer warten zu wollen, auch wenn sie das Schiff im dichten Nebel nicht sehen könne. Ach, wie sehr und wie gerne hatte ich diesen Worten einst geglaubt! In den einsamen Tagen, in den stürmischen Tagen, war der Sirenengesang des Nebellieds oft das einzige, was mich sprichwörtlich über Wasser hielt. All die schönen Worte, die vielen Beschwörungen! Wie Glitzer senkten sie sich auf die Wellen herab, verzauberten die Schaumkronen und hüllten Schiff und Masten ein.

Die dreckigsten Witze und derbsten Späße an Bord verstummten, wenn ich auf meinem Reisegrammophon das Nebellied spielte, und selbst Hein Pöök, unser grober Smutje, der handfest war und kein Träumer, wischte sich in der Kombüse die ein oder andere Träne am Zipfel seiner speckigen Schürze ab. Marina, du Traum von Zimt und Vanille! Damals, in Montevideo, ließ ich mir ein Herz mit deinen Namen darin auf den Oberarm tätowieren. Die Besatzung johlte, schalt mich einen Narren und fortan konnte ich das Nebellied nicht spielen, ohne daß zotige Bemerkungen hin- und herflogen, die an deiner Ehre rührten, Marina. Kurz vor Gibraltar warf ich die Schallplatte und das Grammophon über Bord.

Als wir im Heimathafen einliefen, herrschte schönster Sonnenschein. Wir hatten uns landfein gemacht, die blankpolierten Knöpfe unserer Jacken glänzten im Licht, und heller strahlte nur unser Lachen. Wir wurden alle am Kai erwartet, mit Blumen, Kuchen und glitzernden Herzen. Alle, bis auf Hein Pöök und ich. Gedankenverloren rieb ich meinen Oberarm, meinte ich doch, ein leichtes Ziehen dort zu verspüren, wo das tätowierte Herz war. Dann landete krachend eine Hand in meinem Kreuz. "Hier, min Jong", rief Pöök, feist lachend wie stets. "Ich hab noch einen schönen Rest für dich, das macht satt, da hast du was." Und er reichte mir ein trockenes Stück Käse, das die weite Reise mit uns übers Meer gemacht hatte. Und dazu einen alten Kanten Brot. Etwas Glitzerstaub lag auf der Kruste. Ich blies ihn fort, sehr vorsichtig und biß einfach ab.

Homestory | 12:37h, von kid37 | Kondolieren | Link

 
don papp - Donnerstag, 20. Dezember 2007, 22:53
ein spatz in der hand.
da kann man allen anderen dir dachtauben nur so gönnen...

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kid37 - Donnerstag, 20. Dezember 2007, 22:55
Ein Käsebrot mault niemals rum. Aber niemand läßt sich 'ne Stulle auftätowieren!

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Lu - Freitag, 21. Dezember 2007, 09:48
ich bin hin weg und weg, das klingt so doll nach heimat, dass ich den schlick schmecken kann.

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kid37 - Freitag, 21. Dezember 2007, 13:25
Heim ist, wo man am Kai erwartet wird ;-)

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saxanasnotizen.blogspot.com - Freitag, 21. Dezember 2007, 11:59
Das Glitzerbild ist sowas von grandios! Ein richtiges Weihnachtsgeschenk. Frohe Weihnachten, Kid.

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lady.death1 - Freitag, 21. Dezember 2007, 12:36
DAS
wär mal was auf der Haut..
mit Leuchtdioden eingearbeitet ..
:)

( das Tattoo .. )

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kid37 - Freitag, 21. Dezember 2007, 13:25
Ach, so. Ich dachte das Käsebrot ;-) Ein glitzerndes Bütterken voller Versprechen, das singt: "Stand by your man..." Ich muß sofort zum Tattoo-Laden.

Liebe Saxana, vielen Dank. Leider habe ich gerade den Link verbummelt, wo ich es herhab. Da gibt es noch ein paar solcher freiverwendbaren Bilder. Frohe Weihnachten auch - das brauchen wir wohl alle.

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kaltmamsell - Samstag, 22. Dezember 2007, 08:32
Nich shanghaien lassen, min Jong, nie Glühwein von Fremden annehmen - und dann am anderen Morgen in der Zementfabrik aufwachen statt in der Gartenzwergfabrik.

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2007, 10:48
Nein, nein. ich gehöre nicht zu den Leuten, denen nach einem Glühwein die Welt zum Freund wird. Und spätestens wenn die merken, wie anstrengend das Leben mit mir ist, schälen die Schlepper mich eigenhändig aus dem Beton. Muß man aber immer aufpassen, das stimmt. Seien Sie mir bitte beim Joggen achtsam. Ist glatt.

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derherold - Samstag, 22. Dezember 2007, 09:50
"Heute, ... , wenn einem die Ärztin das Rezept per Post zuschickt...

Müssen wir uns Sorgen machen, Herr kid ?

So etwas machen ÄrztInnen doch nur bei ganz, ganz alten Menschen.

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2007, 10:44
Nun, vermutlich hatte sie vorher in Charles Dickens' berühmter Geschichte "A Patient's Charol" (deutsch: "Eine Patientengeschichte") gelesen, und ich erschien ihr als "the ghost of a patient yet to come": eine altersverwirrte, orientierungslose Gestalt, die - nur in einen verschlissenen alten Frottierbademantel gekleidet - plötzlich bei ihr in der Praxis steht.

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derherold - Samstag, 22. Dezember 2007, 17:14
... und diesen Anblick wollte sie ihren übrigen Patienten ersparen.

Das kann ich nachvollziehen.

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mark793 - Samstag, 22. Dezember 2007, 19:04
Es hätte Sie
ja schon stutzig machen müssen, dass die Dame von einem Latino besungen worden ist, während Sie an Bord mit den Elementen kämpften.

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kid37 - Samstag, 22. Dezember 2007, 19:12
Es war dieser Herr damals. Liegt auf der Hand, daß ich gegen eine solche Granate keine Schnitte habe (die erhielt ich ja erst später von Hein Pöök!). Ich selbst bin eher so ein bißchen langweilig. Der Hüftschwung fehlt einfach. (Und ich kann kein Italienisch.)

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kaltmamsell - Samstag, 22. Dezember 2007, 20:18
Gahaha! Kann es sein, dass der Italiener in seiner heutigen Form damals noch nicht erfunden war?

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